The New Dead: Die Zombie-Anthologie
Körper überhaupt übel sein kann. Ich konnte Geshe kaum spüren, aber ich wusste, dass er da war und etwas ganz anderes erlebte. Statt weiter auf das strahlend weiße Licht des Mitleids zuzuhalten, wie das Bardo es einem vorgibt, schien dieser sehr mitfühlende Mann zu zögern. Das gelbe Licht breitete sich um uns herum aus, als würde sich etwas Giftiges in Wasser verteilen. Geshe schien verwirrt, rührte sich nicht mehr, als würde er gegen einen Ruf ankämpfen, der viel kräftiger war als alles, was ich spüren konnte.Aber ich empfand auch noch etwas anderes, etwas, das uns beiden fremd war, kalt, stark und … ja, hungrig . Grundgütiger, ich habe nie einen solchen Hunger verspürt, ein unstillbares Verlangen wie die kalte Leere des Weltraums, die alle lebendige Wärme aufsaugt.“
Nightingale verharrte eine ganze Weile schweigend, ehe er weitersprach. „Doch dann, als ich hart darum kämpfte, die Verbindung zu Geshe nicht zu verlieren, löste sie sich auf, und er war fort. Ich hatte die Verbindung zu ihm verloren. Das gelbe Licht war überall um mich herum, eigenartig schmierig, ja geradezu abstoßend, aber zugleich auch überwältigend.
Ich fiel zurück. Nein, es war eher das Gefühl, als würde ich zurückgeschoben. Taumelnd kehrte ich in die reale Welt zurück, wieder in meinen Körper hinein. Ich konnte Geshe nicht mehr spüren. Joseph hatte aufgehört, das Chikkhai-Bardo zu lesen, und seine Miene war ein Ausdruck des Entsetzens. Geshes Körper, der sich seit einiger Zeit nicht mehr bewegt oder ein anderes Lebenszeichen gezeigt hatte, war urplötzlich in eine ausgeprägte Cheyne-Stokes-Atmung verfallen mit bebender Brust und zuckenden Gliedern: Es sah fast so aus, als hätte er Krampfanfälle. Doch Joseph schwor später, dass Geshe bereits eine halbe Stunde vorher aufgehört hatte zu atmen, und ich glaube ihm.
Einen Moment später sprangen Geshes Augen auf. Ich hatte schon Seltsameres gesehen, doch trotzdem ließ es mich zusammenfahren. Er war tot gewesen, Onkel Edward, ich schwöre es dir … richtig tot. Jetzt schaute er mich an – doch es war nicht mehr Geshe. Ich konnte es natürlich nicht beweisen, aber ich hatte die Seele dieses Mannes berührt, war mit ihm gegangen, als er seine letzte Reise angetreten hatte. Eine noch engere Verbindung ist kaum vorstellbar, und das hier war er einfach nicht.
‚Nein, ich werde noch nicht sterben‘, sagte er. Die Stimme klang wie seine, aber sie war kräftig, viel zu kräftig für jemanden, bei dem wir noch vor einer Minute das periodische An- und Abschwellen der Atmung beobachtet hatten. ‚Es gibt gewisse Dinge hier auf dieser Welt, die ich noch erledigen muss‘, erklärte er. Doch es waren die Augen: der gleiche kalte, ausdruckslose Blick, den ich in Minnesotadurch den Türspalt und bei anderen Fällen von Besessenheit gesehen hatte. Doch da war nicht dieser innere Kampf, den ich bei einer klassischen Besessenheit beobachtet hatte, kein Hinweis darauf, dass Körper und Seele sich gegen einen Eindringling wehrten. Eben war es noch Geshe gewesen, ein spiritueller Mann, ein Künstler, und im nächsten Augenblick war es jemand anders, jemand, der so kalt und gleichgültig war wie ein Soziopath aus dem Lehrbuch.
Er schloss die Augen und schlief oder tat zumindest so, doch er sah bereits gesünder aus als während der ganzen Zeit, die ich ihn gekannt hatte. Ich konnte Joseph nicht sagen, dass ich der Meinung war, sein Freund sei besessen – wie schrecklich, das einem Menschen zu sagen, der bereits in mehrfacher Hinsicht seelische Erschütterung hatte erleiden müssen! –, und ich wusste nicht, was ich tun sollte, was denken. Ich saß fast eine Stunde lang nur da, ohne dass mir eingefallen wäre, was ich hätte unternehmen können. Schließlich, als die Krankenschwester kam und sich mit dieser unglaublichen Wende im Gesundheitszustand ihres Patienten befasste, verließ ich Geshes Wohnung und besorgte mir einen Drink. Na gut, nicht nur einen … Anschließend kehrte ich nach Hause zurück und schlief wie ein Toter.
Ich hätte sie nicht allein lassen sollen, Edward. Als ich am nächsten Tag zurückkam, war die Wohnung leer. Ein paar Wochen später erhielt ich eine E-Mail von Joseph – oder zumindest von seiner Mail-Adresse –, in der es hieß, Geshe habe nach seiner wunderbaren Genesung nach Tibet reisen wollen, dem Land seiner Herkunft. Seither habe ich nie wieder von den beiden gehört.“
Das Gewitter, das fast eine Viertelstunde lang geschwiegen hatte,
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