The Road of the Dead
Er war ein Familienmensch geworden. Ein Geschäftsmann. Aber Tam hatte ihn immer wieder provoziert – ihn verhöhnt, beleidigt, gedemütigt –, und schließlich hatte es Dad nicht mehr ausgehalten.
»Die Polizei war schon da«, erklärte ich Jess. »Sie haben Dad festgenommen und eingesperrt, und kurz danach stand er unter Mordanklage.«
»Sie sagen, das Ganze war geplant«, entgegnete Jess.
»Wer sagt das?«
»Alle – sie sagen, die Dochertys haben den Kampf bewusst lanciert und die Bullen extra hergelockt, um deinem Dad heimzuzahlen, dass er Billy McGinley erledigt hat.«
»Wer ist Billy McGinley?«
Sie sah mich an und ihr war klar, dass ich wusste, wer das war, aber sie wollte es trotzdem aussprechen. »Er ist ein Cousin der Dochertys.«
»Ja? Und wieso sollte mein Dad ihn erledigen wollen?«
»Weil Billy mit der Tochter von seinem besten Freund rumgemacht hat. Und die war noch ein kleines Kind. Dein Vater ist ein anständiger Mann.« Sie streckte die Hand aus und berührte mich leicht am Arm. »Jedenfalls denkt meine Familie so über ihn. Wir finden, er ist ein anständiger Mensch, der Pech gehabt hat. Das andere, dass er eine Gadje geheiratet und ein Haus gekauft hat … na ja, ich weiß, dass ein paar von den Familien das nicht mögen, vor allem die Älteren, aber für die meisten von uns ist das okay. In letzter Zeit werden doch immer mehr sesshaft.« Sie lächelte mich traurig an. »Die Menschen haben was gegen uns, wenn wir herumreisen, |144| aber es gefällt ihnen auch nicht, wenn wir damit aufhören. Manchmal ist der einzige Ausweg, zu verschwinden.«
Wir gingen jetzt langsam, da wir beide allmählich müde wurden. Vor uns in der Ferne konnte ich so eben die dunstig graue Spitze eines dieser
Tors
ausmachen, die im Sonnenlicht schimmerte. In der flimmernden Luft schien der Stein ein Gesicht zu haben – einen flachen Kopf, eine breite Nase, die Höhlen bernsteinfarbener Augen …
»Es wird für euch nicht anders sein, wenn ihr hierbleibt«, sagte Jess. »Sie werden euch nicht in Ruhe lassen.«
»Wer?«
»Davy, Red, Bowerman … und die andern. Die wollen euch hier nicht haben. Sie werden euch so lange nicht in Ruhe lassen, bis ihr weg seid. Die haben doch viel zu viel zu verlieren.«
»Wie meinst du das?«
Sie wischte sich die Schweißperlen von der Augenbraue. »Ich nehme nicht an, dass Abbie und Vince euch von dem Hotel erzählt haben, oder?«
»Du meinst das Bridge Hotel?«
»Nicht wirklich.«
Als plötzlich ein ferner Schuss von der anderen Seite des Berges herüberschallte, brach sie ab. Ich blieb neben ihr stehen. Auch die Hunde hielten inne – vollkommen still, die Ohren gespitzt und der Blick wachsam. Als der Schuss dumpf in den Bergen widerhallte, schaute ich Jess an und sah, wie sie sich die Hand schützend vor die Augen legte und angespannt in die Ferne blickte.
»Was war das?«, fragte ich.
Sie antwortete nicht.
»Jess?«, sagte ich. »Was war das?«
|145| Diesmal senkte sie die Hand und sah mich an. Ihr Blick war wieder verhüllt durch diese schweigsame Ruhe, aber ich kannte sie inzwischen gut genug, um hinter ihre Fassade zu schauen, und als sie lächelte, den Kopf schüttelte und mir erklärte, es sei wohl nur jemand gewesen, der Kaninchen jagt, wusste ich, dass sie log. Da steckte mehr dahinter.
Sie setzte sich auf einen moosbewachsenen Stein und trank aus der Wasserflasche. Als sie mir die Flasche entgegenhielt, ging ich zu ihr und setzte mich neben sie. Ihr Blick war jetzt wieder offen und ich sah, dass sie mir etwas erzählen wollte. Ich dachte – ohne wirklich nachzudenken –, dass sie mir erklären würde, warum sie mich angelogen hatte, aber das war es nicht. Während ich einen kräftigen Schluck aus der Flasche nahm, fing sie stattdessen an, mir von dem großen Hotel und einem Mann namens Henry Quentin zu erzählen.
Der Kern der Geschichte war, dass das ganze Dorf Lychcombe gerade Stück für Stück aufgekauft wurde. Alles in Lychcombe und um das Dorf herum – jedes Haus, jede Farm, jeder Laden, jedes Gebäude – war entweder schon verkauft, wechselte eben den Besitzer oder stand zumindest zum Angebot.
»Das geht jetzt schon ein paar Jahre so«, erklärte Jess. »Zuerst wollten die meisten aus dem Dorf nichts davon wissen. Viele haben ihr ganzes Leben hier zugebracht – ihre Familien sind hier, ihre Wurzeln, ihre Vergangenheit. Es ist ihre Heimat. Sie
wollen
nirgendwo anders leben. Aber als immer neue Angebote kamen und die Summen
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