The Road of the Dead
mir, bei Jess, bei den Hunden – im Wald, auf dem Berg … sie war den ganzen Weg über bei uns gewesen. Aber jetzt war sie genau hier, genau jetzt, in dieser Zeit.
Jess stand auf und steckte die Wasserflasche in ihre Tasche. »Bist du so weit?«, fragte sie und sah auf mich herunter.
Ich stand auf und wir liefen weiter den Berg hoch. |149| »Hier genau wurde sie gefunden«, sagte Jess ruhig. »Unter dem Weißdorn.«
Wir standen neben einem alten Steinkreis am Ende eines kurzen, grasüberwachsenen Pfads dicht unter der Kuppe des Bergs. Die alten, halb im Boden versunkenen Granitsteine waren im Abstand von ungefähr einem Meter angeordnet und bildeten einen löchrigen Ring von ungefähr vier Metern Durchmesser. Innerhalb des Kreises wuchs frisches Gras – saftig, dicht und grün –, doch außerhalb des Rings gab es nichts als trockene Halme und Fels. Ich verstand das nicht – die Geografie, die Geschichte, die Gestalt der Landschaft –, aber das war nicht wichtig. Ich musste auch nichts verstehen.
Dies war die Stelle.
Der Steinring, der geduckte Weißdorn, der sterbende Wind …
Hier war es passiert.
Jetzt, bei Tageslicht, hätte es anders aussehen müssen. Ohne den prasselnden Regen, ohne die Nacht, ohne das purpurschwarze Licht, das den Himmel zu Boden drückte … Es hätte schwerer zu glauben sein müssen – aber das war es nicht. Es war Mitternacht mitten am Tag und ich sah Rachel in der Dunkelheit nackt und tot daliegen.
Ich sah alles überdeutlich vor mir.
Ich spürte ihren Tod.
Auch Jess’ Hunde spürten etwas. Sie saßen abseits am Rand des Kreises und beide winselten leise. Ihre Rückenhaare standen senkrecht, die Ohren lagen flach am Kopf und ihre Rücken bogen sich vor Angst. Ich wusste nicht, ob es Rachels Tod war, den sie spürten, oder etwas anderes in dem Kreis, das ihnen Angst einjagte – eine Aura, eine Macht, eine unbekannte Kraft. Ich wusste |150| nicht, ob ich an so etwas glaubte, aber ich starrte umher auf die moosbewachsenen Steine und den vom Wind verformten Weißdorn vor mir und ich wusste, was ich fühlte: Ich fühlte, wie Rachel starb, wie der Tote Mann atmete, wie der Regen sich rot färbte vor Blut.
Und daran glaubte ich.
Ich konnte den Toten Mann in den Schatten des Weißdorns sehen. Er wirkte dunkel und scharf und schmutzig … sein Gesicht ein zerbrochenes Messer. Seine Hände verletzt. Er blutete, war zerkratzt, zerbissen. Gelbäugig. Er wusste nicht, wohin. Wo sich verstecken.
Ich drehte mich um und sah Jess an. Sie stand ein paar Schritte hinter mir. Die Hunde lagen jetzt neben ihr, die Köpfe dicht an den Boden gedrückt.
»Wer ist er?«, fragte ich sie.
»Wer?«
»Du
weißt
wer.«
Ihre Augen zuckten und einen Moment glaubte ich, sie würde mich wieder anlügen, doch als sie sprach, klang ihre Stimme wahr. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte es dir sagen … ich wusste nur nicht, ob ich es tun soll oder nicht. Ich meine, es gibt keinen Beweis oder irgendwas … es sind alles nur Gerüchte, wirklich.«
»Sag mir seinen Namen«, sagte ich leise.
Sie sah mich an. »Selden. Er heißt John Selden.«
»Selden?«
Sie nickte.
Ich holte den Toten Mann herbei und versuchte den Namen mit seinem gebrochenen Gesicht zu verbinden –
Selden, Selden, John
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Selden …?
Die Worte passten. Der Name
passte
zu ihm – er
war
John Selden.
»Wer ist er?«, fragte ich Jess. »Was macht er?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er ist nichts … er
tut
auch nichts. Er hängt die meiste Zeit nur allein rum – schleicht durch die Wälder oder durchs Moor …« Ein Ausdruck von Abscheu zog über ihr Gesicht. »So ein gruseliges kleines Arschloch. Ich hab ihn mal erwischt, wie er mich beobachtete. Ich war mit den Hunden draußen, plötzlich bellten sie an einem Baum hoch, und als ich hinaufsah, fand ich Selden, wie er mit dreckigem Grinsen im Gesicht zwischen den Ästen hockte …« Sie sah mich an. »Seit Rachel umgebracht wurde, hat ihn niemand mehr gesehen. Die Polizei hat nach ihm gefahndet, Fragen gestellt, sein Zimmer durchsucht.«
»Aber wie soll er denn hierhergekommen sein?«, fragte ich. »Wie kann er Rachel hier raufgekriegt haben?«
»Die Dorfstraße verläuft gleich da unten«, sagte Jess und zeigte nach rechts den Berg hinab. »Siehst du? Hinter dem kleinen Wäldchen.«
Es gab einen Parkplatz neben der Straße, einen kleinen Zugang zu dem Wäldchen, einen Pfad den Berg hinauf … es war nicht weit. Weniger als
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