The Road of the Dead
wenn man sonst immer nur hört: ›Geht nach Hause und vergesst das Ganze.‹«
Ihr Gesicht hellte sich wieder auf. »Hat das einer gesagt?«
»Klar, ziemlich viele sogar.«
»Übernachtet ihr deshalb bei den Gormans zu Hause?«
Ich dachte darüber nach, dann nickte ich. »Ja, ich glaub schon.« Ich sah sie an. »Kennst du Abbie und Vince?«
»Nicht wirklich. Ich meine, ich weiß, wer sie sind …« Sie warf einen Blick auf ihre Hunde. »Vorhin hab ich deinen Bruder mit Vince zusammen gesehen. Sie sind Richtung Dorf gefahren.« Einen Moment schwieg sie, dann hob sie den Kopf und sah mich mit einem zögernden Blick an. »Dein Bruder hat aber nicht vor, im Dorf auf den Putz zu hauen, oder?«
Ich starrte sie an, fragte mich, wie viel sie wusste und wie viel sie einfach nur annahm … und für einen Moment sah ich etwas von |137| mir in ihren Augen. Nicht bloß meine Vorstellung ihrer Vorstellung von mir, sondern etwas dahinter – ein
Empfinden
von mir. Mein Empfinden für Cole, sein Empfinden für mich, alles das lag in ihren Augen. Sie war jemand Besonderes, diese Jess Delaney.
»Weißt du, wo Rachels Leiche gefunden wurde?«, fragte ich sie.
»Ja«, antwortete sie. »Ist nicht weit von hier.«
»Könntest du mich hinführen?«
Einen Moment sah sie mich an, dann drehte sie sich ohne eine Antwort um und ging los Richtung Wald. Ich sah zu, wie die Hunde hinter ihr herliefen – Finn mit leichtem Lauf, Tripe neben ihm herhoppelnd –, dann zuckte ich innerlich die Schultern und folgte ihnen durch die Lücke hindurch in den Schatten der Bäume.
|138| Acht
I m Wald war es dunkel, kühl und schaurig still. Hoch aufragende Kiefern verdeckten den Himmel und verwandelten das Tageslicht in eine Art Dämmerung, der dicke Nadelteppich unter unseren Füßen schluckte jedes Geräusch. Nichts rührte sich. Selbst die Vögel waren stumm. Es war, als ob man durch das Innere eines alten Doms ginge.
Wir liefen in ehrfürchtigem Schweigen weiter – hinauf durch den Wald, einen unbefestigten Weg entlang, dann über einen Graben und auf einem schmalen Pfad weiter, der sich zwischen dichtem Ginstergestrüpp hindurchschlängelte, ehe er uns zu einem Streifen offenen Geländes führte, der sich die Berge hinaufzog. Als wir über den Streifen aufwärtsliefen, spürte ich allmählich etwas, das ich nicht verstand. Das Moor fühlte sich jetzt anders an – aus Zeit und Raum entrückt – und es lag etwas in der Luft, das mich an Trauer und Sehnsucht denken ließ, an Tränen und Schweiß, an einen leichenblassen Nebelschleier, der von den Bergen herabkroch und das Land in Schweigen hüllte.
Ich schaute hinüber zu Jess und sah, dass sie es ebenfalls spürte. »Das ist der Lychway«, sagte sie.
»Wie bitte?«
|139| »Der Pfad, auf dem wir hier sind, wird der Lychway genannt. Offenbar musstest du, wenn du im dreizehnten Jahrhundert hier in der Gegend gelebt hast und deine Toten auf einem Friedhof begraben wolltest, den Leichnam die ganze Strecke durchs Moor bis zur Gemeindekirche von Lychford tragen. So wurde der Beerdigungsweg als der Lychway bekannt.« Jess sah mich an. »
Lyche
bedeutet Leiche.«
Ich schaute in die Ferne und stellte mir mittelalterliche Beerdigungsprozessionen vor, die sich mühsam den Berg hinaufschleppten, über Felsen und Bäche kletterten und diesem einsamen Pfad durch das Moor folgten …
»Manche Leute nennen ihn auch
Road of the Dead
, den Pfad der Toten«, sagte Jess.
Ich sah sie an.
»Den Lychway«, erklärte sie, »das bedeutet das Wort nämlich: Pfad der Toten.«
Schweigend gingen wir weiter.
Ab und zu verloren wir den Weg und mussten uns über moosige Felsen und durch kniehohe Grassoden kämpfen. Ich hatte schon längst die Orientierung verloren, doch Jess und die Hunde bewegten sich mit dem unbekümmerten Vertrauen von Wesen, die sich noch nie im Leben verlaufen haben. Während sich Jess wie an einer unsichtbaren Linie entlang ihren Weg bahnte und ich dicht hinter ihr folgte, liefen die beiden Hunde vor uns hin und her und schnüffelten nach Vögeln und Kaninchen. Mir gefiel, wie gesund sie wirkten – still, wild und zufrieden.
Wir hatten den Wald jetzt verlassen. Er war zwar noch zu sehen – dunkel auf den Flanken der Berge –, doch als wir immer höher kletterten, dünnten die Bäume aus, bis nur noch eine Gipfelwildnis |140| aus trockenem Gras, Felsen und gelegentlich einem vom Wind gekrümmten Strauch übrig war.
»Hast du nicht gesagt, es wär nicht weit?«, meinte ich
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