The Stand. Das letze Gefecht
1902 die Hochwassermarke erreicht, und danach war es stetig bergab gegangen. Fünfzehn Hektar, mehr war es nicht mehr. Der Rest war entweder wegen Steuerschulden verkauft oder im Lauf der Jahre zu Geld gemacht worden ... und ihre eigenen Söhne hatten einen Großteil verkauft, wie Abby beschämt zugeben mußte.
Letztes Jahr hatte sie einen Brief von einer Gesellschaft in New York bekommen, die sich American Geriatrics Society nannte. In dem Brief stand, sie wäre der sechstälteste Mensch in den Vereinigten Staaten, die drittälteste Frau. Der älteste US-Bürger war ein Mann in Santa Rosa, Kalifornien. Der Mann in Santa Rosa war hundertzweiundzwanzig. Sie hatte sich diesen Brief von Jim einrahmen lassen und neben den Brief des Präsidenten gehängt. Dazu war Jim erst im Februar gekommen. Jetzt, wo sie darüber nachdachte - damals hatte sie Molly und Jim zuletzt gesehen.
Sie hatte nun die Farm der Richardsons erreicht. Sie lehnte sich fast völlig erschöpft an den Zaunpfahl dicht bei der Scheune und betracht ete sehnsüchtig das Haus. Drinnen war es kühl, kühl und angenehm. Ihr war, als könnte sie eine Ewigkeit schlafen. Aber bevor sie das konnte, mußte sie noch etwas tun. Viele Tiere waren auch an der Krankheit eingegangen - Pferde, Hunde, Ratten -, und sie mußte wissen, ob Hühner auch dazu gehörten. Es wäre ein bitterer Witz, zu erfahren, daß sie den weiten Weg zurückgelegt hatte, nur um festzustellen, daß es hier bloß tote Hühner gab.
Sie schlurfte zum Hühnerstall, der an die Scheune angrenzte, und blieb stehen, als sie die Hühner drinnen gackern hören konnte. Einen Moment später krähte gereizt ein Hahn.
»Na also«, murmelte sie. »Soweit, so gut.«
Sie wollte sich gerade umdrehen, als sie den Leichnam beim Holzstoß sah. Eine Hand lag auf dem Gesicht des Toten. Es war Bill Richardson, Addies Schwager. Hungrige Tiere hatten sich ausgiebig über ihn hergemacht.
»Armer Mann«, sagte Abagail. »Armer, armer Mann. Engelscharen mögen dich singend zur letzten Ruhe betten, Billy Richardson.«
Sie wandte sich wieder dem kühlen, einladenden Haus zu. Es schien Meilen entfernt zu sein, obwohl es sich in Wirklichkeit nur auf der anderen Hofseite befand. Sie war nicht sicher, ob sie es bis dahin schaffen würde; sie war vollkommen erschöpft.
»Der Wille des Herrn geschehe«, sagte sie und setzte sich in Bewegung.
Die Sonne schien durch das Fenster des Gästezimmers, wo sie sofort eingeschlafen war, als sie die Schuhe ausgezogen und sich hingelegt hatte. Eine Zeitlang begriff sie gar nicht, warum das Licht noch so hell war; es war ungefähr so ein Gefühl, wie es Larry Underwood gehabt hatte, als er neben der Steinmauer in New Hampshire aufgewacht war.
Sie setzte sich auf, und die angestrengten Muskeln und schwachen Knochen ihres Körpers schrien vor Schmerz. »Allmächtiger Gott, muß den Nachmittag und die ganze Nacht geschlafen haben!«
Wenn das so war, mußte sie wirklich müde gewesen sein. Sie fühlte sich so lahm, daß sie fast zehn Minuten brauchte, um aus dem Bett aufzustehen und ins Bad zu gehen; weitere zehn, urn die Schuhe anzuziehen. Das Gehen war eine Qual, aber sie wußte, daß sie gehen mußte. Wenn sie es nicht tat, würde sie starr wie ein Stück Eisen werden.
Hinkend und lahmend ging sie zum Hühnerhaus, trat ein und verzog das Gesicht angesichts der explosiven Hitze, des Geruchs von Geflügel und des unvermeidlichen Gestanks nach Verwesung. Die Wasserversorgung funktionierte automatisch, eine Schwerkraftpumpe holte es aus Richardsons artesischem Brunnen, aber es war fast kein Futter mehr da, und viele Tiere waren an der Hitze eingegangen. Die schwächeren waren schon lange verhungert oder totgepickt worden; sie lagen zwischen Futter und Dreck herum wie Schneereste, die traurig vor sich hinschmolzen.
Die meisten Hühner liefen flügelschlagend vor ihr davon, aber die brütigen blinzelten sie nur mit ihren dummen Augen an, während Abby langsam auf sie zuschlurfte. So viele Krankheiten waren tödlich für Hühner, daß sie schon Angst gehabt hatte, sie könnten an der Grippe eingegangen sein, aber diese sahen gesund aus. Gott hat's gegeben.
Sie nahm drei der fettesten Tiere und steckte ihnen die Köpfe unter die Flügel. Sie schliefen sofort ein. Abby steckte sie in einen Sack und stellte fest, sie war so steif, daß sie den Sack nicht heben konnte. Sie mußte ihn über den Boden schleifen.
Die anderen Hennen äugten mißtrauisch von ihren Stangen herab, bis die alte
Weitere Kostenlose Bücher