The Stand. Das letze Gefecht
akademische Weise. Das hier ist anders, als im Arbeitszimmer zu sitzen und Situationen durchzuspielen. Harold knurrte eine undankbare Erwiderung und stapfte, die Hände tief in den Taschen vergraben, davon. Er sah wie ein mürrischer, zu groß geratener Zehnjähriger aus.
»Warum können wir ihn nicht transportieren?« fragte Fran verzweifelt und sah von Stu zu Glen.
»Weil sein Blinddarm mittlerweile stark angeschwollen sein muß«, sagte Glen. »Wenn er platzt, schüttet er soviel Gift in Marks Körper, daß zehn Menschen daran sterben könnten.«
Stu nickte. »Peritonitis.«
Frannies Gedanken kreisten. Appendicitis? Das war heutzutage gar nichts! Nichts . Wenn man wegen Gallensteinen oder so etwas im Krankenhaus war, nahmen sie den Blinddarm manchmal gleich mit heraus, wenn sie einen schon offen hatten. Sie erinnerte sich an einen Freund aus der Grundschule, einen Jungen namens Charley Biggers, den alle Biggy nannten, der den Blinddarm in den Sommerferien zwischen der fünften und sechsten Klasse herausbekommen hatte. Er war nur zwei oder drei Tage im Krankenhaus gewesen. Den Blinddarm herauszunehmen war rein gar nichts, medizinisch gesehen.
Ebensowenig war es gar nichts, ein Baby zu bekommen, medizinisch gesehen.
»Aber wenn ihr ihn in Ruhe laßt«, sagte sie, »platzt der Blinddarm dann nicht trotzdem?«
Stu und Glen sahen einander unbehaglich an, sagten aber nichts.
»Dann seid ihr wirklich so schlimm wie Harold sagt!« stieß sie wütend hervor. »Ihr müßt etwas unternehmen, auch wenn ihr's mit dem Taschenmesser tut! Ihr müßt! «
»Warum wir ?« fragte Glen wütend. »Warum nicht du! Wir haben nicht mal ein medizinisches Lexikon, verdammt noch mal!«
»Aber ihr... er... es kann doch nicht einfach so passieren! Es ist gar nichts, den Blinddarm rauszubekommen !«
»Tja, früher vielleicht nicht, aber heute schon«, sagte Glen, aber da hatte sie sich schon weinend von ihm abgewandt.
Sie kam gegen drei Uhr zurück. Sie schämte sich und wollte sich entschuldigen. Aber weder Stu noch Glen waren im Lager. Harold hockte niedergeschlagen auf einem umgestürzten Baumstamm. Perion saß mit überkreuzten Beinen bei Mark und tupfte ihm das Gesicht mit einem Tuch ab. Sie war blaß, aber gefaßt.
»Frannie!« sagte Harold und strahlte sichtlich.
»Hi, Harold.« Sie ging zu Peri. »Wie geht es ihm?«
»Er schläft«, sagte Perion, aber er schlief nicht; das konnte selbst Fran sehen. Er war bewußtlos.
»Wo sind die anderen hin, Peri? Hast du eine Ahnung?«
Harold antwortete ihr. Er war hinter sie getreten, und Frannie konnte spüren, daß er den Wunsch hatte, ihr Haar zu berühren oder ihr den Arm um die Schultern zu legen. Das wollte sie nicht. Mittlerweile erfüllte Harold sie fast ständig mit Unbehagen.
»Die anderen sind nach Kunkle. Um nach einer Arztpraxis zu suchen.«
»Sie wollen versuchen, ein paar Bücher zu besorgen«, sagte Peri.
»Und ein paar... ein paar Instrumente.« Sie schluckte, kühlte weiter Marks Gesicht, tauchte das Tuch ab und zu in ein Feldbesteck und wrang es aus.
»Es tut uns echt leid«, sagte Harold unbehaglich. »Ich weiß, das hört sich dämlich an, aber es stimmt.«
Peri sah auf und schenkte Harold ein gezwungen-freundliches Lächeln. »Das weiß ich«, sagte sie. »Danke. Niemand trägt die Schuld an Marks Zustand. Es sei denn, es gibt einen Gott. Wenn es einen Gott gibt, dann ist es seine Schuld. Und wenn ich ihn sehe, trete ich ihm dafür in die Eier.«
Sie hatte ein Pferdegesicht und einen stämmigen Bauernkörper. Fran, die bei anderen immer zuerst die positiven und dann erst die negativen Merkmale sah (Harold, beispielsweise, hatte hübsche Hände für einen Jungen), fiel auf, daß Peris kastanienfarbenes Haar fast unvergleichlich war, und die dunklen Indigoaugen blickten klar und intelligent. Sie hatte ihnen erzählt, daß sie Anthropologie an der University of New York - NYU - gelehrt hatte; zudem war sie für verschiedene politische Belange eingetreten, darunter Frauenrecht und Gleichbehandlung für AIDS-Infizierte. Sie war nie verheiratet gewesen. Mark, hatte sie Frannie einmal anvertraut, war besser zu ihr gewesen, als sie es je von einem Mann erwartet hätte. Alle anderen, die sie gekannt hatte, hatten sie entweder links liegen gelassen, oder sie mit anderen Mädchen als »Trampel« oder »Vogelscheuche« über einen Kamm geschoren. Sie gab zu, dass Mark unter normalen Umständen wahrscheinlich zu denjenigen gehört hätte, die sie immer
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