Themiskyra – Das Versprechen (Band 2) (German Edition)
werden, sie spannte sich glühend heiß über meinen Knochen.
Nimm dich zusammen, das ist sicher nur ein Missverständnis, ordnete mein Verstand an.
„Polly ist doch schon da.“ Mehr als alles andere auf der Welt hoffte ich, dass das, was ich sagte, stimmte. Doch dann folgte ich dem Blick meiner Mutter zu Selannas Pferdebox. Sie war leer.
„Aella?“ Ich hörte unterdrückte Panik in Atalantes Stimme. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
„Sie ist vor zwei Tagen losgeritten“, brachte ich hervor und spürte, dass ich am ganzen Leib zu zittern begann. „Sie hatte Ohrenschmerzen und wollte deswegen früher nach Themiskyra zurück.“ Ohne nachzudenken hielt ich an der Geschichte fest, die Polly und ich vereinbart hatten, aber in diesem Augenblick hatte ich weder die Gehirnkapazität, mir etwas Neues auszudenken, noch die Nerven, meiner Mutter oder mir die Wahrheit anzutun. Ich konnte mich kaum darauf konzentrieren, was ich erzählte, weil meine Gedanken sich daran klammerten, dass es sich nur um ein Missverständnis handeln konnte, und permanent versuchten, es aufzudecken.
„Sie ist niemals hier angekommen“, sagte Atalante mit mühsam beherrschter Stimme. „Hat sie irgendetwas gesagt? Wollte sie noch wo anders hin?“
„Nein, sie wollte nach Hause“, stammelte ich.
„Habt ihr gestritten?“
„Nein!“
„Meinst du, sie hat sich verirrt?“ Die Fragen meiner Mutter kamen im Stakkato.
„Nein, Polly doch nicht. Niemals.“
„Dann muss irgendetwas geschehen sein.“
Die Einsicht, dass es kein Missverständnis gab, dass Polly tatsächlich verschwunden war, schlug wie eine Bombe in mein Bewusstsein ein. Vom Pferd gefallen. In eine Felsspalte gestürzt. Von Vatwaka verschleppt. Gleichzeitig übergoss mich die Erkenntnis mit einem brennenden Schwall schlechten Gewissens. Ich bin schuld. Was auch immer passiert ist – es wäre nicht geschehen, wenn ich sie nicht von der alten Mühle vertrieben hätte.
Wir sehen uns in Themiskyra! hörte ich Polly in meinem Kopf rufen.
Wo bist du? rief ich zurück, vernahm aber nur statisches Rauschen, das anschwoll.
Atalante sah sich immer noch hektisch um und eilte schließlich zur Stalltür, als hoffe sie, dass Polly jede Sekunde durchs Tor reiten würde. Deshalb bekam sie nicht mit, dass mir die Sinne schwanden.
Ein Mittagessen wäre nicht verkehrt gewesen, merkte mein Verstand streng an, während ich gegen die aufsteigende Übelkeit in meinem Magen kämpfte. Mit aller Willenskraft bemühte ich mich, das Grau zu vertreiben, das sich, von den Rändern ausgehend, meines Gesichtsfeldes bemächtigte. Unbedacht stolperte ich einen Schritt in Richtung der nächsten Pferdebox, in der Absicht mich dort am Gitter festzuhalten, doch der Schmerz, der mir durch den verletzten Fuß schoss, gab mir den Rest. Ich kippte einfach um. Ist mir auch egal, registrierte ich mit schwindendem Bewusstsein. Blaue Flecken egal. Platzwunde egal. Schmerz egal. Ohne Polly ist alles egal …
Zwei starke Arme fingen mich auf, bevor ich auf dem Stallboden aufprallen konnte, und legten mich sanft auf dem Boden ab. Mit Mühe blinzelte ich das Grau weg und langsam schälte sich ein dunkles, um hundertachtzig Grad verdrehtes Augenpaar aus dem Flimmern heraus.
Louis ist nicht egal. Seine Hände ruhten auf meinen Schultern und er sah mich voller Entsetzen an, mit Sicherheit hatte er das Gespräch zwischen mir und meiner Mutter mitbekommen. Schlechtes Gewissen spiegelte sich auch in seinem Blick, aber ich konnte erkennen, dass er sich um Zuversicht bemühte. Plötzlich zuckten seine Hände von mir weg und seine Augen verschwanden. Stattdessen konnte ich seine Stimme vernehmen, obwohl sie so kühl und unbeteiligt klang, dass ich sie fast nicht erkannt hätte.
„Sie hat das Bewusstsein verloren.“
„Ich kümmere mich um sie“, hörte ich Atalantes harsche Stimme. Ihre kühlen Hände strichen mir übers Gesicht. „Geht es wieder?“, fragte sie besorgt.
Ich fand es unglaublich, dass sie sich jetzt mit mir befassen konnte, wo doch Polly, ihre richtige Tochter, verschwunden war und womöglich in höchster Gefahr schwebte. Mein schlechtes Gewissen krampfte sich wie eine kalte Faust um meinen Magen. Ich verdiente ihre Sorge nicht. Sie musste die Wahrheit erfahren. Nur so, wenn überhaupt, konnte ich meine Schuld mindern. Dann konnte sie mich verstoßen und sich mit allen Sinnen auf die Suche nach ihrer Amazonentochter machen. Erschöpft wich ich ihren Händen aus, rappelte mich auf und
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