Themiskyra – Die Suche (Band 3) (German Edition)
unterschiedlicher Intensität wiederkehrte und das wir beide einhellig ignorierten.
„Ich war schon fast weg“, brachte ich nach einigen Minuten, vielleicht einigen Stunden hervor. „Aber ich konnte nicht. Also bin ich zurückgekommen.“
Polly drückte meine Hand. „Wie konntest du aus dem Tempelraum entkommen?“, fragte sie.
„Ich will dich nicht anlügen, aber ich will dir auch nichts erzählen, was dich oder andere in Schwierigkeiten bringen kann, wenn Atalante dich ausfragt.“
„Verstehe.“ Sie dachte sich mit Sicherheit ihren Teil. Nach einer langen, langen Pause erkundigte sie sich vorsichtig: „Und … Louis?“
„Er konnte nicht warten.“
„Er ist weg?“
Ihre ungläubige Frage schnürte mir die Luft ab und ich glaubte nicht, genug Atem für eine Antwort zu finden, doch dann hörte ich mich ganz nüchtern sagen: „Er ist weg.“
„Wohin?“
„Keine Ahnung.“
„Ell …“
„Ich wollte nicht gehen, ohne mich von dir zu verabschieden. Aber dann war Themiskyra schon in Aufruhr und er befürchtete, dass die Patrouillen uns erwischen würden, und ich … habe ihn alleine wegreiten lassen.“
„Ell, das hättest du nicht tun –“
„Sag es nicht“, unterbrach ich sie schnell und drehte mich zu ihr um. Trotz der Dunkelheit erkannte ich ihren entsetzten Blick. „Ich habe das Richtige getan“, sagte ich fest.
„Ja“, erwiderte sie nach einer Weile nachdenklich. „Das hast du wirklich. Es tut mir leid, dass du traurig bist. Aber wir beide, wir gehören hierher.“
Nach dem vergangenen halben Jahr hatte ich Zweifel, ob ich wirklich in die Stadt der Amazonen gehörte; aber ich wusste, dass ich zu Polly gehörte. Und wenn ich das eine nur in Verbindung mit dem anderen haben konnte, würde ich Themiskyra eben in Kauf nehmen. Und das Beste daraus machen. Auch wenn das Beste momentan einem Albtraum glich.
Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn als ein erneutes, heftiges Klopfen an der Tür ertönte, strömte helles Licht durch das Fenster. Ich stellte fest, dass ich das Bett für mich hatte und setzte mich auf. Polly stand im Nachthemd im Zimmer und war offenbar unentschlossen, ob sie aufsperren sollte oder nicht.
„Aella, öffne augenblicklich die Tür oder ich werde sie aufbrechen!“, zischte eine Stimme, die eindeutig Atalante gehörte.
Ich nahm einen tiefen Atemzug, stand auf und trat nahe an die Tür.
„Gib mir einen Augenblick Zeit, mich zu waschen und anzuziehen. Ich komme in zehn Minuten in dein Zimmer.“ Meine Stimme klang völlig ruhig. Und sie entsprach dem, was ich fühlte. Es war nichts da, nichts, was mich in Unruhe versetzen konnte. Alles war, wie es war. Ausgeglichen. Statisch. Leer.
„Gut“, vernahm ich Atalante nach einer kurzen Pause und hörte, wie sich ihre Schritte entfernten.
„Guten Morgen“, wünschte ich Polly, die meinen Gruß murmelnd erwiderte, während sie mich skeptisch musterte. Anscheinend war sie nach all meinen hitzigen Streitereien mit Atalante und ihrem aggressiven Auftreten eben verwundert über meinen Gleichmut. Doch was hätte es gebracht, sich aufzuregen? Nichts lohnte die Mühe. Ich hatte nichts mehr, um das ich fürchten musste.
Wie versprochen erschien ich ein paar Minuten später im Studierzimmer der Paiti.
„Mach dir Tür hinter dir zu und setz dich“, wies sie mich von der Couch aus an.
Ohne sie anzusehen befolgte ich ihren Befehl, allerdings nur halb, denn ich blieb mitten im Raum stehen, nachdem ich die Tür geschlossen hatte.
Sie quittierte meine Weigerung mit einem Schnauben und erhob sich. „Was ist gestern Nacht geschehen?“, wollte sie wissen, während sie auf mich zukam.
Ich schwieg. Ich würde sie nicht anlügen und ich würde Victoria nicht verraten. Es war also kein Trotz, der mir die Lippen verschloss, auch wenn Atalante offenbar davon ausging.
„Wie konntest du den Tempel verlassen? Und wie Themiskyra?“
Ich sah weiter aus dem Fenster und betrachtete das leuchtende Blau des Himmels und das frische Grün der Weiden und Wälder in der Ferne.
„Ich hätte vermutet, dass deine Freundinnen dir geholfen haben, aber Corazon hatte mit Irina Nachtschicht bei den Außenställen und Grace schwört Stein und Bein, dass Victoria den gesamten Abend über bei ihr war und ihr noch aus einem Buch vorgelesen hat, nachdem die Kleine einen Albtraum hatte.“
Also gehörte Grace zu unseren Mitwissern. Schlau von Victoria. Keine würde die Worte des kleinen, unschuldigen Amazonenmädchens anzweifeln, dem
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