Themsen, V: Elfenzeit 17: Korsar der Sieben Stürme
das definitiv aus der Anderswelt stammte.
Ein weiterer Schritt, und sie spürte das leichte Kribbeln. Ein Teil ihrer Umgebung verblasste, während ein anderer stärker hervortrat. Bäume voller bunter Blüten, die sie vorher nur schwach wahrgenommen hatte, traten in den Vordergrund. Rian blieb stehen.
Was ist das hier?
Sie dachte an ihren Sturz, an das Gefühl, ständig zwischen den Welten zu wechseln. Und auch am Boden war es anscheinend so – die Grenzen waren verwaschen, manchmal konnte sie sogar von einer Welt in die andere sehen.
Erneut machte Rian das kleine dunkelhäutige Kerlchen mit dem schwarzen Seidenhaar aus. »He!«, rief sie. »Kannst du mir helfen?«
Das Wesen drehte den Kopf zu Rian, und ein verrunzeltes Gesicht mit funkelnden Knopfaugen wurde sichtbar. Dann hob es eine Hand und setzte ein Blasrohr an. Im letzten Moment warf Rian sich zur Seite.
»Hey!«
Ein Tonkügelchen flog an ihr vorbei, und während Rian um ihr Gleichgewicht kämpfte, kicherte das Wesen und huschte zurück in die Schatten.
»Na warte.« Rian rannte hinterher. Ihre langen Beine trugen sie deutlich schneller voran, und die Bäume standen nicht dicht genug, um dem Flüchtigen ausreichende Deckung zu bieten. Noch mehrfach spürte sie die Zeichen des Wechsels, doch sie hatte den Eindruck, dass sie nicht jeden Übergang mitmachen musste. Sie alle waren nur Möglichkeiten, von einer in die andere Welt zu wechseln, und sie lagen so dicht beisammen, als gäbe es gar keine wirkliche Trennung.
Mit einigen langen Sprüngen erreichte die Elfe das Kerlchen und packte es am Arm. »He! Was sollte das? Warum greifst du mich an?«
Mit einem Quieken versuchte das Wesen, sich zu befreien, doch Rians Griff war unerbittlich. Schließlich gab es auf und sah mit großen Augen zu ihr hoch. »Angreifen? Ich hab doch nur Spaß gemacht … Richtig angreifen geht doch ganz anders, da nehme ich Pfeile. Und ich dache, du wärst eine von denen, von den blinden Menschen.«
Rian runzelte die Stirn. »Bin ich nicht. Ich bin Rhiannon von den Sidhe Crain, und ich versuche gerade herauszufinden, wo ich hier eigentlich bin und warum. Also ärgere mich lieber nicht.«
»Du bist in Temasek«, sagte der Kleine. »Wie kann man nicht wissen, dass man in Temasek ist?«
»Temasek? Die Leute da sagten, ich wäre in Singapur.«
»So nennen es die Menschen. Die, die nach den Orang Laut gekommen sind. Die Orang Laut haben es Temasek genannt, und wir fanden den Namen hübscher und haben ihn behalten.«
»Orang Laut?« Anstatt Antworten zu finden, stieß Rian nur auf noch mehr Fragen.
Das Hutzelwesen seufzte. »Die See-Menschen. Die mit den Booten herumziehen. Na ja, zumindest haben sie das früher getan. Jetzt haben sie die meisten gezwungen, irgendwo dumme hässliche Häuser zu bauen, statt ihrer lustigen bunten Boote. Und hier leben ohnehin keine mehr; die sind alle woandershin, als die anderen aus allen Ecken der Welt kamen – die Dunkelhäutigen aus dem Norden und die mit den Schnurrbärten aus dem Westen und die Weißhäutigen von … irgendwo weit weg. Da war kein Platz mehr, wo die Orang Laut in Ruhe anlegen und fischen konnten, weil so viele Schiffe hier durchfuhren und Handel trieben.«
Wo der Handel herrscht …
»Das hier ist also eine Handelsstadt. Eine, die zwischen den Welten liegt?«
»Hier gab es nie ›Welten‹. Es hätte doch nur geschadet, das eine vom anderen zu trennen – immerhin kam man hierher, um Gewinn zu machen. Guten Gewinn. Du bekommst an diesem Ort alles, was dein Herz begehrt, falls du so etwas hast. Sachen, Magie, Wissen … Du musst nur wissen, wo du hinmusst oder wen du fragen kannst.« Er zappelte erneut. »Lässt du mich jetzt endlich los?«
»Gleich. Wo finde ich die Wissenshändler?«
Der Kleine machte eine ausladende Bewegung mit den Armen. »Eigentlich überall in der Stadt. Raffles Center, Orchard Road, Bugis Junction … Aber am nächsten liegen die Esplanade Mall und die Sonnenstadt. Esplanade hat nicht viele Läden, da sind vor allem Theater drin, aber Sonnenstadt ist das Beste. ›Suntec City‹ nennen es die Menschen; die haben da auch Büros und alles Mögliche. Ist gleich da drüben, hinter den ersten Hochhäusern, kaum zu übersehen. Die Mall da drin ist riesig.«
»Und da finde ich alles?«
Er zuckte die Achseln. »Oder sie sagen dir, wo du stattdessen suchen sollst.«
Rian nickte und ließ los. »Danke.«
»Ehm … bitte.« Wie ein geölter Blätterblitz verschwand das Männchen wieder zwischen den
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