Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
Ecke, wo jetzt drei Haufen Hundedreck zu sehen sind, war das Bett gestanden, im Stil der Zeit des Louis Quatorze oder des Louis Seize, darüber wurde ab und zu diskutiert, ich glaube, es hatte mit keinem der Louis irgend etwas zu tun gehabt, aber das ist ja egal; in diesem Bett also war die Mutter gelegen, die Nachttischlampe hatte einen honigfarbenen Seidenschirm gehabt, das Licht fiel auf ein Buch, Mutter hatte vor dem Einschlafen Romane gelesen, immer einige Seiten aus zwei verschiedenen Romanen an einem Abend, zuerst etwas von Marcel Proust oder von der Colette und nachher einen Kriminalroman. Sie schlief immer bei offenem Fenster, und wenn Onkel Edi zu Besuch kam, musste sie viel mehr lesen als sonst, um endlich einschlafen zu können, denn Onkel Edi saß, wenn das Wetter schön war, lange über Mitternacht noch am Tisch unter den Platanen und erzählte seinen Kumpanen die wildesten Geschichten über Bauern oder Geschäftsleute, die in Slowenien, Kroatien oder weit unten in Bosnien die Vertreter der Anglo-Danubia mit den verschlagensten Tricks hatten hereinlegen wollen, was ihnen ohne weiteres auch gelungen wäre, wenn er nicht da gewesen wäre, er, Eduard Kranz, er lachte, lachte laut, und laut lachten auch seine Kumpane, und die Mutter rettete sich vor diesem Lachen zu Charly Chan oder zu Sherlock Holmes.
Oder sie fuhr weg, lange bevor die Ferien zu Ende waren, sie verständigte von der Abreise den Vater erst nachherund Onkel Edi überhaupt nicht, er schlief noch, in den Vormittag hinein, und sie war einfach nicht mehr da, so viel war ihr noch von den radikalen Gebärden ihrer Jugend geblieben; sie fuhr ab, kurz entschlossen, wie zu einem bulgarischen Arzt oder zu einem französischen Maler, und ihr langer Seidenschal, den sie bei Reisen in der Art der Tänze rin Isidora Duncan eng um den Hals geschlungen und dann bis an die Knie herunterhängend trug, flatterte im Fahrtwind des offenen Automobils, eine Fahne der Frauenemanzipation. Dieser Schal müsste irgendwo liegen, ich würde ihn gerne Ihnen schenken, Fräulein Moravec, sehen Sie irgendwo einen Schal? Er ist nicht da, und Sie sind nicht da, und also müssen Sie ihn sehen; er gehört Ihnen. Wickeln Sie ihn um den Hals, und lassen Sie dann das eine Ende herunterhängen, aber passen Sie auf, treten Sie nicht auf das freie Ende, Sie könnten sich dabei erwürgen, Ihr Hals ist sehr dünn, genauso dünn wie der Hals der Agnes Deutsch gewesen war – ja, Mutter fuhr also ab, und ich saß neben ihr auf dem kleinen Sitz, uns gegenüber saß meine Erzieherin. Sie hieß Margot und war immer gut gekämmt. Wir fuhren nach Abbazia.
In Abbazia blühten andauernd alle Bäume, aber es war ein müdes Blühen, es erinnerte an den Geschmack von Orangenjam, das zusammen mit den viereckigen Scheiben gerösteten Weizenbrots jeden Morgen auf dem Frühstückstisch stand, in einer runden Glasschale, jeden Morgen das Jam von gestern in der Glasschale von gestern, wie es schien, denn keiner von uns hat jemals Orangenjam gegessen; in der rötlich honigfarbenen Sülze erstarrt lagendie krummen Streifen von Orangenschale, die an Würmer erinnerten, das Jam war verkrustet und glänzte matt, immer matter, und die dicken Blütenblätter in Abbazia hingen wie Taschentücher von den Stängeln, schwer und fleischig, zu fleischig, ausdörrend; Blumen standen in brave Blumenbeete eingereiht, brave und müde Blumen, die gerade noch duften konnten, müde und ermüdend, es war, als sei in jeder Blume eine winzige leere Parfumflasche verborgen, und unter den allzu üppigen Sträuchern spazierte Agnes Deutsch, zwölf Jahre alt, vielleicht dreizehn. An ihrem Hinterkopf zitterte das hellbraune Haar. Sie trug sogenannte Korkenzieherlocken. Die Luft roch nach ranzigen Nüssen und runzligen Orangen, und Mutter überquerte langsam die Straße, sie zog würdevoll über den vorher aus einem Schlauch mit Wasser bespritzten, schokoladefarbenen Asphalt des Weges, vorbei an einem schmiedeeisernen Gitter und am runden Musikpavillon, in dem bereits die Musiker saßen, ihre Instrumente stimmten, und auf der Messingtafel, die einem Notenständer nachgebildet war, lag ein Blatt Papier mit der sorgfältig in Tusche gezeichneten Aufschrift: Erinnerungen an Herkulesbad.
Agnes Deutsch also, blauäugig, vielleicht etwas schielend, mit einem Blick jedenfalls, der immer staunend war, aber nicht kindlich staunend, sondern empört, gierig und ekstatisch, Agnes Deutsch mit ihrem hysterischen Blick und mit den
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