Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
Korkenzieherlocken ging denselben schokoladefarbenen Weg entlang, den die Mutter gegangen war, ging langsam, wie gelangweilt – und wenn gelangweilt, warum dann dieser Blick? – zum Gartencafe, wo an einemTisch in Gesellschaft mehrerer dickbeiniger, mit Gold behängter Frauen auch eine Frau Deutsch saß, Mutter der Agnes Deutsch, wie ich wusste, es durfte nicht wahr sein, Frau Deutsch hatte ebenfalls blaue Augen, aber in einem Gesicht, das aussah, als hätte ihr jemand gerade einen Teller voll Milchbrei in die Visage geklatscht. Die Mutter war mit Frau Deutsch bekannt, die beiden grüßten einander, und ich hätte die Mutter bloß fragen müssen, ob ich mich nicht um Agnes Deutsch ein wenig kümmern sollte, aus Höflichkeit, und weil ein Kind eben Gesellschaft braucht, aber ich fragte nicht, war wie gelähmt, wagte kaum in die Kniekehlen der Agnes Deutsch zu blicken, die sich bei jedem Schritt ein wenig auftaten und ein wenig schlossen, wie Ihre Kniekehlen, Fräulein Moravec, ich muss es nicht weiter beschreiben, Sie müssen sich nur zwischen zwei Spiegel stellen und so tun, als machten Sie Schritte, und dann im Spiegel, der vor Ihnen steht, den anderen Spiegel beobachten, den Winkel, in dem der Oberschenkel mit dem Unterschenkel verschränkt ist, Ihnen bedeutet das nichts, Sie zählen Ihre Schritte nicht und sehen sich selbst Gott sei Dank beim Gehen nicht zu, aber ich war damals zwölf oder dreizehn; und seit Jahren bereits lief ich mit trockenem Mund herum, ich musste nur an eine Frau denken, an irgendeine, und schon hatte ich einen trockenen Mund, und ich dachte eben an nichts anderes als an Frauen, und aus diesem ausgetrockneten Mund schluckte ich die Gier mit trockener Zunge in mich immer wieder zurück, jeden Tag tausendmal, es ist lächerlich, heute bin ich zweiundzwanzig, heute ist es ein Scherz, und ich hätte Wichtigeres zu tunals an Ihre Kniekehlen zu denken oder an die Kniekehlen der Agnes Deutsch, ich weiß nämlich bereits, was das ist: eine Kniekehle. Knochen, Fleisch, Knorpel, Muskeln, Lymphdrüsen, Adern, Haut. Auch Männer haben Kniekehlen, die Kniekehlen toter Männer sind, solange die Leichen noch frisch sind, nicht anders als die Kniekehlen junger und lebendiger Mädchen, die in Thennberg zum Nachbarn rennen, um Milch zu holen, oder in Abbazia durch den Park spazieren, langsam, um den Moment ein wenig hinauszuzögern, in dem man sich gesittet an den Tisch des Gartencafes setzen muss neben breiige Damen. Ihre Kniekehlen, Fräulein Moravec, sind nicht anders als die Kniekehlen des wahnsinnigen Adalbert Friedländer gewesen sind. Aber ihn hätte ich nicht mitgenommen, Ihnen will ich alles zeigen, für Sie tauche ich alles in den dickflüssigen grauen Apothekerschnaps. Der lange Seidenschal meiner Mutter ist nicht da, wenn er da wäre, würden Sie nicht frieren, und auch ich würde nicht frieren, aber so frieren wir eben, wärmen uns am Frieren, jeder wärmt sich am Frieren des anderen. Die Treppe führt zum Dachboden, eine Wendeltreppe ohne Fenster.
Eine braune Tür, eine Türklinke aus Messing. Dahinter das Vorzimmer, mit grauem Tuch tapeziert, zwei schmale, geschlossene weiße Türen, hinter der einen der Duschraum, hinter der anderen das Klosett, gegenüber eine weiße Tür, ebenfalls geschlossen, hinter ihr ein kleiner Salon, dann wieder eine Tür, und dann das Schlafzimmer. Feuchtigkeit in den schmalen Wänden. Lampenschirme wie aus Fledermausflügeln. Unter der mit großen gelben Blumen bedruckten Decke das gelbliche Bettzeug.Vor dem Spiegel Bürste und Kamm. Zwischen den Zähnen des Kammes rotblonde, vielleicht silbrige Haare. Eine Wanduhr, die nicht tickt. Spinnengewebe vor dem Fenster. Auf dem Nachttisch ein Buch: Ulrike Woytich von Jakob Wassermann. In einem schmalen ovalen Rahmen das Porträt von Joseph II., ein Stahlstich. In der obersten Schublade der Kommode ein dunkelbrauner, beinahe schwarzer Seidenstrumpf. Im Duschraum ein eierförmiges Stück Seife.
Immer lustig, immer froh, Schlimmeres als der Tod kann einem nicht passieren, und wenn Joachim Schwarzer aus Konstanz oder sein Vorgänger oder sein Nachfolger die Wohnung der Tante Paula nicht zerstört hat: Was ist schon dabei? Na, besser als gar nix, hätte Phoebus Silbermann gesagt. Richard Kranz lachte, aber lautlos. Christus ist für uns alle gestorben, sagte er. Dann sagte er: Blödsinn. Er hörte seine Stimme. Dann wollte er wieder lachen. Er grinste, es gab keinen Laut. Fräulein Moravec war nicht mehr anwesend. Bevor
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