Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
Richard Kranz wegging, dachte er: Die Haare der Tante Paula im Kamm, ja, warum eigentlich nicht?
D
erRichter Mohaupt, an einem Winterabend, zu seiner Schwiegertochter Katherina:
Es bleibt uns nichts anderes übrig als zu leben. Leben heißt vor allem: zu unterscheiden. Zu unterscheiden erstens zwischen den Interessen der eigenen Person und dem Sinn der eigenen Person.
Die Interessen führen nach außen, verführen, lassen uns aufgehen in der Welt, lösen uns auf, löschen uns aus. Unsere Interessen werden mit der Zeit mächtiger als wir es sind. Sie werden zu fixen Ideen, denen wir folgen, obwohl sie sogar unserem Egoismus längst nicht mehr entsprechen. Je treuer wir an unseren Interessen hängen, umso leichtfertiger geben wir uns selber preis.
Der Sinn der eigenen Person, die Erkenntnis dieses Sinnes führt nach innen, macht uns immun gegenüber der Verführung, wird zur Verführung für die Welt, die uns auf unserem Weg nach innen begleitet, in uns hereinströmt, uns füllt. Um nach innen gehen zu können, müssen wir das Zeichen erkennen, unter dem unser Schicksal steht. Unser Schicksal ist die sichtbare Form unseres Charakters. Wir müssen das Gesetz dieses Charakters erkennen, das Gesetz seiner Beschaffenheit, seines Funktionierens und seines Platzes in Bezug zu den anderen Menschen. Wir müssen nach diesem Gesetz handeln, selbst wenn es uns missfiele.
Der Weg nach innen führt nicht nur zur Erkenntnis des eigenen Gesetzes, sondern auch in die Gemeinschaft aller, die den gleichen Weg gegangen sind. Sie ist zeitlos. Ich zum Beispiel kam auf diese Weise in die Lage, mit Montaigne und mit Lichtenberg enge Freundschaft zu schließen.Sie sind für das Abendland orientalisch anmutende Geister. Sie wirken, indem sie auf die Hoffnung, wirken zu können, verzichten. Nicht Bauten, sondern Gesteine formen die Landschaft.
Als Richter war ich freilich an Gesetze gebunden, und die Gesetzgebung besteht vorwiegend aus Feilschen. Das ausgehandelte Endergebnis wird in Form von Paragraphen konserviert, und zwar durch Leute, die den Weg nach außen gegangen sind. Sie hatten die Absicht, etwas zu bewirken. Das taten sie, aber bloß für einen Augenblick. Der Weg nach außen führt zu nichts Beständigem. Deshalb sind alle Paragraphen bereits in der Minute ihrer Verkündigung immer veraltet.
Ich versuchte nach meinem eigenen Gesetz zu urteilen und stellte mir jedes Mal die Frage, wie das gestörte Gleichgewicht der Welt durch mein Urteil wiederhergestellt werden könnte. Ich balancierte zwischen den Paragraphen und der Erkenntnis jener größeren Balance. Bis zum Jahre vierunddreißig fiel mir dieses Balancieren nicht schwer. Nach dem Anschluss hätte ich es kaum mehr zuwege gebracht, aber da war ich bereits in Pension.
Diktaturen sind lecke Schiffe, in denen zwar nichts auf dem Kopf, aber alles schief steht. Nur schiefe Linien gelten als waagrecht. Alle waagrechten Linien gelten als schief. Das gestörte Gleichgewicht wird zur Norm, die Störung gilt als Normalzustand.
Natürlich könnte man fragen: Herrscht denn nicht ständig irgendeine Art von Diktatur? Jeder Versuch einer prinzipiellen Antwort wäre reinste Spekulation. Ein dummes Spiel also. Es gibt nur eine empirische Antwort. Sieist statistischer Natur. Eine Diktatur ist daran zu erkennen, dass sie aus irrationalen Gründen, die sich aber meistens besonders rational gebärden, nicht drei, sondern dreißig Leute tötet, nicht dreißig, sondern dreihundert Leute in die Gefängnisse schickt, nicht dreihundert, sondern dreitausend Leute absichtlich zugrunde richtet, nicht dreitausend, sondern dreißigtausend Leute unglücklich macht, nicht dreißigtausend, sondern dreihunderttausend Leute dazu zwingt, sich selbst zu verleugnen, nicht dreihunderttausend, sondern drei Millionen Leute verrückt macht, indem sie ihnen das Gefühl gibt, ihr Unbehagen wäre nicht die Folge des gestörten Gleichgewichtes, sondern das Zeichen der Unmündigkeit.
Jede Diktatur beginnt als eine Diktatur der Seele über den Körper, also als eine gewaltsame Lostrennung der Seele vom Körper, also, nach einem Purzelbaum, letztlich als eine Gewaltherrschaft der Körper, der Körperlichkeit über die Seele, über die Seligkeit, da in der Welt, ihrer materiellen Beschaffenheit gemäß, das Stoffliche eine größere Wirkung hat als das Geistige. Wer die Materie vom Geiste trennt, verzehnfacht ihre Wirkung.
Unterscheiden müssen wir also, zweitens, zwischen Seele und Körper. Das klingt altmodisch,
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