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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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ist aber bloß eine praktische Vereinfachung. Die Seele ist unser Wollen, der Körper ist unser Sein. Unsere Kirche hält dieses Sein für etwas Flüchtiges und sogar Erniedrigendes. Sie verpflichtet uns durch die Weihe der Taufe, den Zustand der Körperlichkeit mit Geduld zu ertragen, ihre Anfälligkeit dem Teuflischen gegenüber durch Wollen zu überwinden. Unsere Kirche unterscheidet sich durch diesen Anspruch nichtvon den Diktaturen. Doch geht es mir nicht um die Kirche, sondern um das Leben.
    Wenn wir nicht im Sinne unserer Kirche, sondern im Sinne des Lebens zwischen Seele und Körper unterscheiden, dann wird uns die Seele zum Mittel, das Chaos, in das unser Körper gestellt ist, zu überschauen, und der Körper wird uns zum verlässlichen Maß unserer Phantasmagorien. Wir werden trachten, zwischen Chaos und innerer Ordnung, zwischen Ideen und Fakten, zwischen Genusssucht und Selbstdisziplin einen Mittelpunkt zu finden, hier und jetzt, ohne erst auf das Jenseits hoffen zu müssen. Nicht das verkrampfte Mühen um das Recht, in den Himmel zu kommen, sondern bloß das ständig wache Bewusstsein und der nimmermüde Anspruch auf Harmonie zwischen Geist und Fleisch eröffnen uns den Weg in die Zeitlosigkeit – auch wenn diese bloß eine Wirkung auf Dinge und Personen ist, die weiterwirken, endlos, durch unzählige Generationen.
    Das Geheimnis heißt: erarbeitete Harmonie. Oder erkämpfte Disharmonie, in der Hoffnung auf einen Gleichklang, der sich einstellen muss, um die Disharmonie in eine neue Art von Harmonie zu verwandeln. Erst mit der Krankheit ergibt sich die Möglichkeit der Genesung. Die Zerstörung ist letztlich das sicherste Verfahren, einen Aufbau einzuleiten; das Bauen wiederum verursacht die Zerstörung, es liefert ihr das geeignete Material.
    Da aber Angriff und Verteidigung, Zerstörung und Aufbau, Trieb und Erkenntnis, Seele und Körper, Christentum und Heidentum (oder besser gesagt: unchristlicherGottesglaube), Flüchtigkeit und Beständigkeit, Leidenschaft und Resignation, Haus und Gestein einander nicht nur ausschließen, sondern auch ergänzen, ja einander geradezu imperativ herbeirufen, müssen wir, drittens, unterscheiden zwischen der Verbundenheit mit diesen Gegensätzen und der Freiheit von ihnen.
    Diese Freiheit ist aber nur relativ, nur vorübergehend, vielleicht nicht mehr als eine Illusion, da wir Menschen sind. Wir müssten bei lebendigem Leib absterben, um uns von all den kämpferischen Zwillingen zu befreien. Dieser todesähnliche Zustand zu Lebenszeiten ist aber durchaus denkbar, vielleicht ist er auch wirklich möglich. Was wollen wir also: das Spiel oder den Tod? Sind wir imstande, den Tod zu wollen? Oder ist auch unser Entschluss, die Spielregeln zu missachten, das Spiel zu durchschauen und zu verachten, das Spiel für unsere Person zu unterbrechen – ist auch dieser Entschluss bloß eine extreme Art, das Spiel fortzusetzen? Ist die Missachtung der Spielregeln nicht eine radikale Erweiterung des Spieles, spielerisch beschlossen?
    Ich rede manchmal gerne, es freut mich, dass ich noch eine Stimme habe und dass du Ohren hast. Geh schlafen. Wenn du nicht nur Augenlider, sondern auch Ohrenlider hättest, wären sie dir über den Gehörgängen längst zugeklappt.

I
    chhabe dir tausendmal gesagt, dass du am Morgen die Pantoffeln anziehen sollst, sagte Heinrich Moravec zu Liselotte Moravec um sechs Uhr morgens in der Küche, stehst barfuß auf dem Stein, da musst du dich ja verkühlen, und wer wird dich dann gesundpflegen müssen? Ich habe tausendmal gesagt, nimm das blaue Handtuch für das Gesicht und das grüne Handtuch für den Unterleib, man soll schließlich nicht den Hintern und den Mund mit demselben Handtuch abwischen, oder? Ich habe dir tausendmal gesagt, dass du das Fenster zumachen sollst, wenn du da stehst, so, nackt halt, ein junges Mädchen wie du, schämst du dich denn überhaupt nicht? Die Leute, du weißt ja, wie sie sind, es genügt, wenn einer vorbeikommt, wenn einer hereinschaut, wenn einer dich sieht, so, dich und mich, hast du verstanden?
    Aus der Tasche seines grauen Morgenrocks zog er eine halbvolle Schachtel angeschimmelte Juno, steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an.
    Angst hast du, sagte Lilo, sie hatte ihr Nachthemd auf den Sessel geworfen und stand vor dem Waschtisch, nackt, aber doch nicht ganz nackt, sondern vom Nabel aufwärts eingehüllt in den Dunst, der aus der Waschschüssel stieg, aus dem beinahe noch kochenden Wasser. Du hast

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