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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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einen Juden im Haus, der gerade aus dem Kazet gekommen ist, kommen Sie wenigstens wirklich aus dem Kazet? Ja, sagte Richard Kranz. Also dann trinken Sie Tee und essen Sie Schmalzbrot, sagte Lilo, Sie sehen ja aus wie eine Vogelscheuche, sind Sie krank? Ich möchte auf den Friedhof gehen, sagte Richard Kranz, wenn Sie nichts Besseres zu tun haben, könnten Sie mich begleiten, ich habe nämlich vergessen, wo der Friedhof liegt. Auf den Friedhof? fragte Lilo. Ich habe gehört, dass eine alte Bekannte von mir gestorben ist, sagte Richard Kranz, sie hat Helene Wallach geheißen, ich möchte zu ihrem Grab. Warum? fragte Lilo aus dem Dampf, der über dem Teetopf qualmte. Nur so, sagte Richard Kranz. Die Russen sind da, sagte Lilo, wenn die Russen da sind, soll man besser nicht aus dem Haus. Wenn Sie mit mir sind, tut Ihnen niemand etwas, sagte Richard Kranz.
    Der kleine dicke Jakob Rombach schwebte in der Luft. Die Straße war menschenleer. Er flog wie eine fette Fledermaus. Der Vater meines Vaters hieß Maximilian Kranz, seine Frau hieß Fanny, sagte Richard Kranz, der Vater meiner Mutter hieß Jakob Rombach und seine Frau hieß Hermine. Ja, na und? fragte Lilo. Man redet, sagte Richard Kranz. Ach so, sagte Lilo, wir haben ja Zeit bis zum Friedhof. Es wird Ihnen nichts schaden, wenn Sie mich ein wenig besser kennen, sagte Richard Kranz, Sie werden das vielleicht brauchen können. Warum? fragte Lilo. Weil Sie schön sind, sagte Richard Kranz. Schöner als meine Mutter? fragte Lilo.
    JakobRombach trug ein Haarbüschel zwischen der babylonischen Sklavennase und der zu kurzen Oberlippe, sagte Richard Kranz, oder er dachte es nur. Er redete ununterbrochen und dachte ununterbrochen, die Gedanken waren schneller als die Worte, und also musste er manches laut gedacht haben und manches lautlos, er hörte seine Stimme nicht, vielleicht war auch dieses Durcheinander nur eine Folge von Vitaminmangel. Jakob Rombach hatte sich den Schnurrbart wachsen lassen, sagte oder dachte bloß Richard Kranz, um älter zu erscheinen als er war (hatte die Mutter erzählt), in jungen Jahren wollte er nämlich die Besitzerin einer Wirkwarenhandlung heiraten, eine ältliche Witwe, „groß wie ein Nilpferd“, aber die Witwe heiratete dann einen Gastwirt, weil er mit besseren Herren Tarock spielte, wie ihr erster Mann, und Jakob Rombach nahm, viel später, die Tochter eines Spiegelmachers zur Frau, die Hermine hieß und nicht sehr lange lebte. Er war um viele Jahre älter als seine Frau, behielt aber den Schnurrbart trotzdem, und zwar, weil er glaubte, sein viereckiges weiches Gesicht wirke mit dem Schnurrbart brutaler und einfältiger als es war. Jakob Rombach hatte die fixe Idee (hatte die Mutter erzählt), er wäre viel zu weich für dieses Leben und müsste also den Rücksichtslosen spielen. Man hielt ihn dann wirklich für einen einfältigen und brutalen Menschen, selbst seine Töchter fanden ihn „geschmacklos“; wenn er abends in das Kinderzimmer kam, versteckten sie die Köpfe in den Kissen, denn sie wollten keinen Gutenachtkuss haben, sein Schnurrbart kratzte angeblich und stach, roch nach Speiseresten und nach Tabak. Um ein Haar wäre die Ehe zwischenMutter und Vater an diesem Schnurrbart gescheitert. Nachdem Fanny Kranz, also Großmama, also die Mutter des Vaters, damals bereits Witwe, den Jakob Rombach, also den zukünftigen Schwiegervater ihres Sohnes gesehen hatte, „erklärte sie dezidiert“ (hatte die Mutter erzählt), ihr Sohn würde niemals die Tochter dieses Kutschers heiraten dürfen. Fanny Kranz war sehr fein. Ihr Vater war Gutsverwalter gewesen in der Batschka und hatte nebenbei mit Mehl und mit anderen Viktualien gehandelt. Auch ihr verstorbener Mann, Maximilian Kranz, war sehr fein gewesen. Er hatte eine Druckerei gehabt, und zu seiner Kundschaft hatten viele Aristokraten gehört. Auch die Eltern der unglücklichen Mary Vetsera hatten ihre Visitenkarten bei Maximilian Kranz drucken lassen. Aber Großpapa ist verhältnismäßig jung gestorben, und zwar an der eigenen Feinheit (hatte die Mutter erzählt), er war nämlich im Prater auf der Hauptallee vom Pferd gefallen und hatte sich das Genick gebrochen, „Was setzt sich ein Druckereibesitzer auf ein Pferd?“ Fanny Kranz führte dann die Druckerei allein, denn ihre Söhne, Ferdinand und Eduard, waren noch viel feiner als sie, und wollten von der Druckerei nichts hören. Dabei wäre Großmama beinahe Sternkreuzdame geworden. Sie verkaufte die Druckerei und zog sich ins

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