Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
Begehren früherer Zeiten. In der nächsten Sekunde aber spürte Richard Kranz allein die Sehnsucht, den schmächtigen Körper des Mädchens zu umschlingen, die Zunge zwischen ihre Lippen zu stoßen, einzudringen in ihren Schoß.
Es ist nämlich so, dachte oder sagte Richard Kranz (aber diesmal hörte er seine eigene Stimme), dass es für Sie gar keine andere Möglichkeit gibt, als mit mir in den nächsten Busch zu gehen, nein, nicht in den nächsten Busch, sondern gleich nach Wien. Sie spinnen, sagte Lilo. Oder wir gehen in das Schloss, sagte Richard Kranz. Das Grab von Helene Wallach war eines von vielen, eine kleine Erhöhung der Erde, ein Kreuz aus Eisen, schwarz angestrichen, auf dem Querbalken ein Name mit weißer Farbe auf das Eisen gepinselt. „Moravec?“ Es war seltsam, ein Zufall, wie im Theater, es war unerheblich. Richard Kranz sagte: Mag sein, dass ich spinne, und außerdem habe ich meine sogenannten guten Manieren in den letzten Jahren wahrscheinlich verloren. Na eben, sagte Lilo. Was heißt das: Na eben? fragte Richard Kranz. Ich habe, sagte er, Ihre Mutter sehr verehrt, außerdem haben Sie die Augen der Agnes Deutsch. Ich werde mit Ihnen nicht nach Wien fahren, sondern gleich nach Abbazia, sagte er, dortwerden wir Purzelbäume schlagen, der Sand am Ufer ist warm. Wo ist das? fragt Lilo.
Ihre Mutter – sagte Richard Kranz. Er konnte den Satz nicht beenden. Irgendwo auf der Landstraße, zweihundert Schritt vom Friedhof, stieg eine kleine Staubwolke hoch. Die Erde war feucht, aber an den emporgequetschten Rändern der Radspuren zerborsten unter den Hufen trockene Schollen. Jesus, die Russen, sagte Lilo. Sie sprang hoch, hüpfte, flog zwischen den Reihen der Gräber dahin, ein Schuppen stand an der Friedhofsmauer, die Türangeln quietschten. Wie ferne ist das alles, dachte Richard Kranz, da reiten vier junge Russen auf kleinen Pferden, wozu reiten sie, was gehen sie mich an? Da rennt ein Mädchen davon, da geht man ihr nach, fort vom Grab der Geliebten, auf einem schmalen Weg zu einem Bretterverschlag, geht mit knorrigen Beinen, wird bald versuchen, die Kleider von ihrem Körper zu ziehen, um sie nackt zu sehen, nackt zu spüren – und man hat in den letzten Jahren fünfhundert nackte Körper gesehen, fünfhundert oder fünfzehnhundert, lebende und tote, alle nach demselben langweiligen Modell beschaffen, warum ekelt man sich nicht, ekeln müsste man sich, langweilen und fürchten müsste man sich, man müsste vollgesogen sein mit Leichengeruch, mit Körpergeruch, und siehe da, man geht einem Mädchen nach, wird ihren Körper beriechen und betasten, und am Ende wird man irgendwo beisammenliegen und glauben, man wäre verliebt, bloß weil man einander berochen, betastet, beschleckt, begattet hat, wozu denn das alles? Bei jedem Schritt wiegte er den Kopf wie verwundert, da stand er, standverwundert vor dem niedrigen Bretterverschlag, die Türangeln quietschten, Spaten lehnten an der Bretterwand, Hacken, Schaufeln, Bretter, Rechen, die Luft roch nach abgestandenem Wasser, durch fingerdünne Spalten sickerte Licht herein, es war nicht hell und nicht dunkel, es war, als stünde der Schuppen unter Wasser; in ihrem dicken Mantel, eingehüllt in ihre Tücher lehnte Lilo an der Bretterwand.
Sie sagte etwas, hob die Arme, er verstand sie nicht, hörte sie kaum, legte die Hand auf ihr Kopftuch, fühlte die Wölbung ihres Schädels, wozu das alles, dachte er, während er mit dem Mund die rissigen kühlen Lippen berührte, wozu das alles? Und immer noch dachte er, klar, zweifelnd, verwundert, während er die beiden Zahnreihen voneinander trennte, mit der Zunge über die andere Zunge strich, da lehnt einer an einer Bretterwand, dachte er, küsst ein Mädchen, wozu küsst er sie? Aber während er das dachte, dachte auch noch ein anderer für ihn, dachte: Du bist zurückgekehrt, du bist doch noch heimgekehrt irgendwohin, nach Hause, vielleicht spielt das Orchester in Abbazia gleich jenen Walzer, vielleicht hast du den Hunger und die Schläge und die Wanzen bloß geträumt, vielleicht wird es bald Abend, Frau Deutsch sitzt in der ekelhaften Üppigkeit ihres aufgeschwemmten Leibes und ihres klimpernden Schmuckes am Tisch des Gartencafés, und die Mutter wartet daheim, und auf dem Dach des Schlosses jammern die Kater, und im Hof der Helene Wallach rasselt die Kette des Brunnens –
Riechen tun Sie nicht anders als die andern, sagte Lilo später. Wieso? fragte Richard Kranz. Ich meine, sagte Lilo, Sie als Jude
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