Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
zu fragen.
Er schrieb am nächsten Tag an Richard Kranz, an die alte Adresse in die Bräunerstraße nach Wien. Er bekam keine Antwort. Das beunruhigte ihn, aber seine Unruhe wurde von einer anderen, einer beruhigenden Entdeckung verdrängt und überlagert: Er begriff, dass die scheinbare Teilnahmslosigkeit seiner Frau an den Ereignissen in Thennberg ein Krankheitssymptom war oder ein Zeichen der Genesung oder zumindest eine Bedingung der Genesung. Er sah nun, dass ihn weder die Eindrücke aus den Monaten der ersten Verliebtheit getäuscht noch sich die Wesenszüge seiner Frau in den letzten Jahren verändert hatten, sondern dass sie – wie er es eigentlich erwartet hatte – das Überleben oder das Krepieren aller Leute ihrer Umgebung und sogar die Art dieses Überlebens oder Krepierens allzu intensiv, geradezu hektisch, ja ekstatisch miterlebt hatte. Sie schwieg nicht aus Gleichmut, sondern um sich durch Schweigen (oder durch Schwatzen über die Apotheke oder über den Gemüsegarten) gegen neue Anfälle des Leidens zu wehren. Ihre Oberflächlichkeit bei der Schilderung der letzten Kriegs- und ersten Friedenstage, ihre Unfähigkeit, die verschiedenen Ereignisse in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen, ihre wirren Entschuldigungen, wenn sie das eine oder andere zu erzählen ver gessen hatte, all die hohlen und großspurigen Redewendungen, die ihr bis dahin fremd gewesen waren und in ihrer Sprache nun plötzlich auftauchten – sie erzählteetwa, der Geist des Ambros hätte sich „verfinstert“, der Volkssturm wäre „nicht auf den Plan getreten“, der alte Baron Ammer hätte dem Heinrich Moravec „einige kleine Kostbarkeiten“ vermacht –, die gehemmte, zerzauste, verhuschte Art ihrer Berichte: All das war bloß Selbstschutz, ein Gebot der seelischen Hygiene. Katherina wehrte sich gegen die allzu brutalen Folgen, die das Aussprechen gewisser vergangener Dinge offenbar haben musste.
Alles, was ausgesprochen wird, dachte Erich Mohaupt, ist unvergleichlich mehr als eine Anzahl von Lauten oder eine Reihe von Wortinhalten: alles, was ausgesprochen wird, ist beinahe die Wirklichkeit selbst, auch wenn es längst nicht mehr existiert, und da das Ausgesprochene ein Konzentrat ist, nur der Phantasie unterworfen und frei von den vielen zerstreuenden, dekonzentrierenden, unverbindlichen Elementen der Wirklichkeit, kann das Ausgesprochene, das Wort, viel heftiger schmerzen als das ursprüngliche, unformulierte, unkonzentrierte Erlebnis. Und außerdem, dachte er weiter, ist das Verhältnis zwischen der Wirklichkeit und ihrer Formulierung durch Worte wirklich paradox. Man würde glauben, die Wirklichkeit hätte Bestand und die Worte wären flüchtig, und dann sieht man auf einmal, dass die Wirklichkeit, die ja nur eine einzige Gegenwart hat, fortwährend dahinschwindet, während ihre Hülle so wie sie in den Köpfen und in den Worten der Leute Form gefunden hat, bestehen bleibt. Katherina hatte, wenn überhaupt, keine andere Chance, als ihrem Entsetzen das Wort und die Wörter zu entziehen, die vergangene Wirklichkeit durch Verweigerungder Formulierung zu entrealisieren, und dabei einfach zu warten, darauf, dass das Leben – das Alltagsleben – mit seinen zahllosen neuen Ereignissen all die Erinnerungen verdränge. Es gibt Gifte, die selbst vom gesündesten geistigen Organismus nicht ausgeschieden werden können; das einzige, was man versuchen kann, ist: ihre Wirksamkeit zu mindern. Die Therapeutik der Psychoanalyse, dachte Erich Mohaupt, beruht auf einer schönen Illusion, sie stellt sich die Seele als einen Sack vor, den man entleeren kann. Das Schweigen ist vielleicht auch nicht gesünder, aber menschlicher, und vielleicht genügt es, manches anzudeuten, ohne es exakt und direkt zu formulieren. Er beschloss (und er fühlte Genugtuung über seinen Entschluss, da er glaubte, die Welt und in ihr sein eigenes Schicksal seien ernsthafte Angelegenheiten, aus denen Schlüsse gezogen werden konnten, durften, mussten, und wenn es auch nur aus Freude an der eigenen Pedanterie geschah), er beschloss also, seiner Frau nie mehr eine Frage über jene bewegten Tage zu stellen, sondern geduldig auf die Gelegenheit zu warten, die sie, wenn’s überhaupt sein musste, zum Sprechen bringen würde.
Als Heinrich Moravec das Schloss kaufte (nicht von Kranz, nicht vom jungen Baron Ammer, und auch nicht von jenem Joachim Schwarzer aus Konstanz, der im Schloss zuletzt gewohnt hatte, sondern von einer Immobilien AG, die den inzwischen von
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