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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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des Heinrich Moravec ohnehin nichts erfahren können, zudem hatte er ja auch nichts anderes vorgehabt, als das Grab seines Vaters oder das seiner Mutter zu besuchen.
    Er schrieb dann ein zweites Mal an Richard Kranz in die Bräunerstraße nach Wien, erhielt aber auch diesmal keine Antwort. Als er einige Monate später nach Wien musste, um in der Apothekerkammer bei der Pharmazeutischen Gehaltskasse etwas zu erledigen, ging er nach dem Besuch im Büro aus der Spitalsgasse fort. Sein Zug fuhr erst dreieinhalb Stunden später. Mohaupt überquerte die Alserstraße und ging die Langegasse entlang, an dem Haus vorbei, in dem er als Gymnasiast gewohnt hatte. Es war November, in der Luft schwebten, winzigen hellen Insekten gleich, leichte Schneeflocken, die etwa in Mannshöhe dahinschmolzen und verschwanden; der feuchte Asphalt glänzte dunkel, in der Farbe billiger Schokolade. Mohaupt bog nach links. Er ging am Parlament vorbei und dann durch den Volksgarten, in dem, in der Nähe der Meierei, zwischen den bereits kahlen Bäumen eine nicht angewurzelte, sondern künstlich errichtete Tanne stand, mit grauen Brotstücken behängt, ein „Weihnachtsbaum der Vögel“, wiees von einer kleinen Tafel zu lesen war, und in der Tat war der Baum von Raben umlagert. Mohaupt ging vom Michaelerplatz durch die Passage zwischen kleinen Geschäften in die Habsburgergasse. In diesem Durchgang war er, noch als Gymnasiast, manchmal gestanden, wenn er auf Richard Kranz gewartet hatte, der aus der Bräunerstraße gekommen war, dicklich und immer wie zu glatt, ein Junge, der den einzigen Wunsch hatte, nicht zu sein, was er war, also nicht Sohn des Bankdirektors Kranz, sondern etwa Sohn des Landwirts Eckert oder des Försters Alois Klamm, nicht blass und nervös und belesen und naschhaft, sondern ruhig, ungebildet, behäbig und vulgär, in der Sprunghaftigkeit seines Geistes (die keine war, sondern bloß ein allzu schnelles Umschalten von einem Gegenstand auf den anderen) andauernd verwundbar, und durch die artige, zu sehr kultivierte, wie unverbindliche Form seiner Äußerungen dennoch immer wie von einem unsichtbaren Lack überzogen.
    Richard Kranz war um vier Jahre jünger, und das war viel. Mohaupt hielt ihn für unernst oder, besser gesagt, für zu ernst; er begriff wohl, dass sein Freund so ganz und gar ernst sein musste, um sich dem Leben zu stellen und dadurch seiner eigenen Glattheit zu entgehen, er begriff, dass für Richard Kranz sein Lebensernst die einzige Möglichkeit war, die Dinge an sich herankommen zu lassen und sie dann (aus Selbstschutz) in den Bereich der Phantasie zu verweisen, aber durch diesen, aus ehrlichen und achtbaren Gründen geführten Schattenkampf verzerrte sich das Bild, das Richard Kranz vom Leben hatte, trotzdem. Indem aber die Tatsachen in drohende Schatten verwandeltwurden, indem sie nun mit falscher Wucht gegen einen ebenfalls falschen Schutzwall prallten, der ihnen freilich standhielt, verwandelte sich die echte Bedrängnis des Richard Kranz in eine harmlose Komödie. An diesem Gefühl der Harmlosigkeit litt er, ohne den Weg in das wirkliche Leben zu finden, in dem die echten Triebe und auch die Finten den echten Gefahren trotzten. „Man muss sich ans Kreuz schlagen lassen, um die Wahrheit zu beweisen, aber was hat man dann von der Wahrheit, wenn man einmal ans Kreuz geschlagen ist“, hat einmal Richard Kranz gesagt, und ein anderes Mal: „Ich möchte einmal der Herzog von York sein, denn dann dächten alle, ich wäre der Herzog von York, und niemand wüsste, dass ich es bin.“
    Das Haus in der Bräunerstraße war unversehrt. Richard Kranz und seine Eltern hatten in der zweiten Etage gewohnt, in Räumen, die nach Bodenwachs gerochen hatten und nach süßen Likören. Mohaupt war nie gerne in diese Wohnung gegangen, er hatte die Mutter seines Freundes nicht gemocht, sie hatte ihn jedes Mal angelächelt, und aus Augen, die wie Kirschen glänzten, freundlich angesehen, aber das Lächeln und der beinahe liebevolle Blick hatten falsch gewirkt, aufgesetzt, verlogen. Diese zuvorkommende Verlogenheit war demütig gewesen: Das hatte Mohaupt am meisten gestört. Auch die Sanftheit des Direktors Kranz, den er hin und wieder nicht nur in Thennberg, sondern auch in der Bräunerstraße getroffen hatte, auch diese Mattigkeit, dieses stete Leiden an der eigenen Kultiviertheit hatte gekünstelt gewirkt, war, wie es Mohaupt empfunden hatte, Demut ausHochmut. Im zweiten Stockwerk hatte nun eine Speditionsfirma ihr Büro, und

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