Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
offizielle Sprache der Volksrepublik China, hatte sie bereits ins Auge gefasst. In ihrem Klassenzimmer hingen große, bunte Weltkarten, und ihre Schüler waren davon überzeugt, dass sie überall gewesen war, alles gesehen hatte und alle Sprachen sprach. Die Welt ist groß, sagte sie immer wieder, und in anderen Ländern beherrschen die meisten Menschen mehr als eine Sprache. Im Unterricht konzentrierte sie sich auf Spanisch, ermutigte die Schüler aber, sich auch mit anderen Sprachen zu befassen.
Theos Mutter hatte viele Jahre lang Spanisch gelernt und ihm schon im Vorschulalter wichtige Vokabeln und Ausdrücke beigebracht. Manche ihrer Mandanten stammten aus Mittelamerika, und wenn Theo ihnen in der Kanzlei begegnete, nutzte er die Gelegenheit, seine Sprachkenntnisse auszuprobieren. Das kam immer gut an.
Madame Monique meinte, er habe ein Ohr für Sprachen, was ihn motivierte, sich noch mehr anzustrengen.
Oft drängten die Schüler sie aus Neugier, etwas auf Deutsch oder Italienisch zu sagen. Das tat sie auch, aber zuerst ließ sie diese Schüler aufstehen und selbst etwas in den betreffenden Sprachen sagen. Dafür gab es Bonuspunkte, ein großer Ansporn. Die meisten Jungen in Theos Klasse kannten ein paar Dutzend Wörter in verschiedenen Sprachen. Aaron, der eine spanische Mutter und einen deutschen Vater hatte, war mit Abstand der Sprachbegabteste. Aber Theo war fest entschlossen, es mit ihm aufzunehmen. Neben Sozialkunde war Spanisch sein Lieblingsfach, und Madame Monique mochte er fast so gern wie Mr. Mount.
Heute fiel es ihm jedoch schwer, sich zu konzentrieren. Sie lernten spanische Verben, schon an guten Tagen eine mühsame Angelegenheit, und Theo war mit seinen Gedanken woanders. Er sorgte sich um April, für die es ein harter Tag werden würde. Es musste furchtbar sein, sich zwischen seinen Eltern entscheiden zu müssen. Und als es ihm schließlich gelang, April aus seinen Gedanken zu verbannen, ging ihm der Mordprozess nicht aus dem Sinn. Morgen würde er die Eröffnungsplädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung hören. Er konnte es kaum erwarten.
Die meisten seiner Klassenkameraden träumten von Endspiel- oder Konzertkarten. Theo Boone lebte für die großen Prozesse.
Die zweite Stunde war Geometrie bei Miss Garman. Es folgte eine kurze Pause im Freien, und dann kehrten die Jungen in ihr Klassenzimmer zurück, zu Mr. Mount und der besten Stunde des Tages– das fand zumindest Theo. Mr. Mount war Mitte dreißig und hatte früher bei einer riesigen Kanzlei in einem Wolkenkratzer in Chicago als Anwalt gearbeitet. Sein Bruder war Anwalt. Sein Vater und sein Großvater waren Anwalt und Richter gewesen. Mr. Mount hatte jedoch irgendwann genug gehabt von den langen Arbeitstagen und dem enormen Druck und seinen Job gekündigt. Er hatte sein dickes Gehalt gegen eine Aufgabe eingetauscht, die ihm lohnender erschien. Er unterrichtete für sein Leben gern, und obwohl er sich immer noch als Jurist fühlte, fand er das Klassenzimmer viel wichtiger als den Gerichtssaal.
Weil er sich mit dem Thema Recht so gut auskannte, wurde in seinem Sozialkundeunterricht die meiste Zeit über historische und aktuelle Fälle und sogar fiktive Verfahren im Fernsehen gesprochen.
» Also gut, Männer«, begann er, als alle saßen und Ruhe eingekehrt war. Er bezeichnete die Jungen immer als » Männer«, was die Dreizehnjährigen als großes Kompliment empfanden. » Morgen seid ihr bitte spätestens um 8.15 Uhr hier. Wir fahren mit dem Bus zum Gericht, damit wir pünktlich auf unseren Plätzen sitzen. Es handelt sich um eine vom Direktorat genehmigte Exkursion, ihr habt also sonst keinen Unterricht. Nehmt Geld mit, damit wir im Pappy’s Deli zu Mittag essen können. Noch Fragen?«
Die » Männer« hingen wie gebannt an seinen Lippen, die Aufregung stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
» Was ist mit Rucksäcken?«, wollte einer wissen.
» Keine Rucksäcke«, erwiderte Mr. Mount. » In den Sitzungssaal dürft ihr nichts mitnehmen. Es wird strenge Sicherheitskontrollen geben. Immerhin ist es seit Langem der erste Mordprozess hier. Sonst noch Fragen?«
» Was sollen wir anziehen?«
Alle Blicke– einschließlich dem von Mr. Mount– wanderten zu Theo. Es war allgemein bekannt, dass Theo mehr Zeit im Gericht verbrachte als die meisten Anwälte.
» Sakko und Krawatte, Theo?«, fragte Mr. Mount.
» Nein, das ist nicht nötig. Wir können so gehen, wie wir sind.«
» Ausgezeichnet. Noch Fragen? Gut. Ich habe Theo
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