Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
fehlerhaft erklärt werden würde, aber das galt auch für die anderen Boones.
Die Geschworenen gingen, ansonsten rührte sich niemand. Die Leute waren wie vor den Kopf geschlagen und warteten auf weitere Informationen. Jack Hogan und Clifford Nance erhoben sich gleichzeitig und sahen Richter Gantry an.
» Meine Herren, im Augenblick werde ich keine Erklärung für meine Handlungsweise abgeben«, sagte dieser, bevor sich die beiden äußern konnten. » Kommen Sie bitte morgen um zehn in mein Büro, dann werde ich die Gründe erläutern. Ich möchte, dass so schnell wie möglich wieder Anklage erhoben wird. Neuer Verhandlungstermin ist die dritte Woche im Juni. Der Angeklagte bleibt gegen Kaution und mit denselben Auflagen auf freiem Fuß. Die Verhandlung wird vertagt.« Er schlug mit seinem Hammer auf den Richtertisch, stand auf und verschwand.
Nachdem Richter und Geschworene den Saal verlassen hatten, blieb den anderen nichts anderes übrig, als ihrem Beispiel zu folgen. Allmählich erhob sich die Menge und schob sich zur Tür.
» Ab in die Schule«, sagte Mr. Boone streng zu Theo.
Vor dem Gericht schloss Theo sein Fahrrad auf.
» Kommst du heute Nachmittag vorbei?«, fragte Ike.
» Natürlich. Heute ist doch Montag.«
» Wir haben einiges zu besprechen. Das war eine lange Woche.«
» Kann man wohl sagen.«
Ganz in der Nähe, am Haupteingang, wurde es laut, weil alle so schnell wie möglich nach draußen wollten. Pete Duffy, der von seinen Anwälten und anderen umringt wurde, rauschte ab, während die Reporter ihm Fragen hinterherschrien. Sie bekamen keine Antwort. Omar Cheepe bildete die Nachhut und schubste sogar einen der Journalisten. Er wollte schon seinem Auftraggeber folgen, als er Theo sah, der das Rad zwischen die Beine genommen hatte und zusammen mit Ike das Drama beobachtete. Cheepe erstarrte und schien für den Bruchteil einer Sekunde unentschlossen. Sollte er Mr. Duffy nachlaufen, um ihn zu beschützen, oder sollte er zu Theo gehen und ihm ein bisschen Angst einjagen?
Theo und Cheepe sahen sich aus fünfzehn Metern Entfernung an. Dann machte Cheepe kehrt und ging davon. Ike schien von der Sache nichts mitbekommen zu haben.
Theo hatte es nun ebenfalls eilig. Er fuhr zur Schule, und als das Gericht hinter ihm zurückblieb, fiel die Anspannung von ihm ab. Er konnte kaum glauben, dass Montag war. So viel war in den letzten sieben Tagen geschehen. Der größte Prozess in der Geschichte der Stadt hatte begonnen und war schon wieder zu Ende– und dennoch nicht abgeschlossen. Dank Theo war ein Fehlurteil verhindert worden. Der Gerechtigkeit war Genüge getan, zumindest für den Augenblick. Er würde sich eine Pause gönnen, aber es würde nicht lange dauern, bis er sich im Geheimen mit Bobby Escobar und Julio traf. Das stand für ihn fest. Theo würde Bobby coachen, ihn auf die drei Stunden vorbereiten, die er im Juni im Zeugenstand verbringen würde.
Doch jetzt war auch noch dieser unheimliche Omar im Spiel. Wie viel wussten er, sein Auftraggeber und Clifford Nance wirklich? Fragen über Fragen. Theo war verwirrt, fand das Ganze aber spannend.
Dann fiel ihm April ein. Morgen, am Dienstag, würde der Richter entscheiden, bei welchem Elternteil sie leben musste. Ihre Anwesenheit vor Gericht war nicht nötig, aber sie war ohnehin mit den Nerven am Ende. Theo musste sich Zeit für sie nehmen. Er beschloss, sich in der Mittagspause abzusetzen und mit ihr zu reden.
Woody fiel ihm ein, dessen Bruder im Gefängnis saß und dort vermutlich auch bleiben würde.
Er stellte sein Fahrrad an der Fahnenstange ab und spazierte mitten in der ersten Stunde in die Schule. Er hatte eine schriftliche Entschuldigung seiner Mutter dabei, die er bei Miss Gloria im Sekretariat abgab. Dabei fiel ihm auf, dass Miss Gloria nicht lächelte, was sie sonst eigentlich immer tat.
» Setz dich, Theo«, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf einen Holzstuhl neben ihrem Schreibtisch.
Wieso denn das? Er kam doch nur später.
» Wie war es bei der Beerdigung?«, fragte sie ernst.
Eine Pause, während Theo fieberhaft überlegte, wovon sie sprach. » Wie bitte?«
» Die Beerdigung letzten Freitag, zu der dich dein Onkel…«
» Ach, die Beerdigung. Super. Tolle Sache.«
Sie blickte sich nervös um und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Leise, sollte das heißen. Die Türen zu den benachbarten Büros standen offen.
» Theo.« Sie flüsterte praktisch. » Mein Bruder ist letzte Nacht von der Polizei angehalten worden.
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