Theo
Motorengeräuschen ein paar Runden auf dem Fußboden, während Theo schon einmal tief Luft holt, um sich auf seinen ersten Tränenausbruch vorzubereiten. Denn die Autos gehören ihm und sonst niemandem. Und es gibt Menschen, die dürften sie nicht einmal berühren. Und zu denen zählt dieser da.
Danach streckt Onkel Z. Theo, mit den Worten: »Und jetzt du«, die Spielzeugautos entgegen. Theo dreht sich angewidert zur Seite. Onkel Z. erwischt noch seinen Kopf, fährt ihm mit der geöffneten Hand fest durch die Haare und sagt: »Spitzbub!« Theo läuft heulend und »Mama«-schreiend auf und davon. Sollte Onkel Z. nicht auf der Stelle hinausbefördert und mit einem zeitlich unbegrenzten Hausverbot belegt werden, dann zieht Theo aus der elterlichen Wohnung aus. Sie haben die Wahl.
Dass es auch ganz anders geht, beweist Tante Erika. Sie ist sozusagen das lebensechte Gegenstück zum imaginären Onkel Z. – Sie ist die Nachbarin. Und so könnte man auch die Beziehungen bezeichnen, die Theo zu ihr pflegt – sie sind gut nachbarschaftlich und bei aller Herzlichkeit doch erfreulich distanziert. Dafür bürgt der Gartenzaun, eine Barriere, die Theo jede Scheu vor dem nicht allzu Bekannten nimmt. Ginge es nachTheo, würde er vielleicht noch einen Stacheldraht drüberziehen. Sicher ist sicher. Kann man in Menschen hineinschauen? – Aber es würde ihn schon sehr wundern, sollte er sich in Tante Erika getäuscht haben.
Wenn sich das Fenster im zweiten Stock öffnet, taucht stets sofort der immer gleiche Kopf auf. Dann herrscht einige Augenblicke Stille. Das gibt Theo Gelegenheit, sich auf den akustischen Teil der Kontaktaufnahme vorzubereiten. »Hallo Theeeeoooo«, ruft die Frau mit angenehmer Stimme, nicht zu laut und schön weit weg. »Tante Erikaaaaa«, erwidert Theo entzückt. Manchmal schickt er sein telefonisches »Na hallo, hallo, hallo!« nach.
Nun kann er mit ruhigem Gewissen bis hin zum Gartenzaun treten. Es besteht keine Gefahr, dass Tante Erika ihre Position verändert, ihren Fensterplatz verlässt und Theo unverhofft in den Rücken fällt, um mit ihm Dracula oder Hubschrauber zu spielen.
So herrschen geradezu ideale Bedingungen für eine längere Unterhaltung. Worüber gesprochen wird? – Ach, Nachbarngetratsche: Man redet übers Wetter, erzählt sich die neuesten Geschichten von daheim, spricht sich die kleinen Wehwehchen des Alltags von der Seele. Zugegeben, die Gespräche sind in einer Weise eher einseitig: Theo ist von Beginn an am Wort und gibt es selten her. Am gesicherten Gartenzaun ist er in seinem Mitteilungsbedürfnis eben nicht mehr zu bremsen.
Tante Erika hat mit »Ja« oder »Nein« zu antworten undkann bei passender Gelegenheit ein beeindrucktes »Ah so?« einfließen lassen. Im besten Fall darf sie »Ach, du Armer!« sagen, wenn ihr Theo in Anflügen von Selbstmitleid einen Finger entgegenstreckt und ihr mitteilt: »Tante Erika, schau, da hat eine Ameise angebissen.« – »Ach, du Armer«, sagt sie. »Müss ma blasen!«, erwidert Theo. Das darf sie dann auch noch machen, so gut es aus zehn Metern Entfernung eben geht.
Die Konversation hatte zwei kleine Schönheitsfehler. Aber die sind mittlerweile auch schon behoben. Theo bekam im Zuge des Garten-Smalltalks mit der Frau am Fenster im zweiten Stock regelmäßig ein steifes Genick. Außerdem musste er beim Reden stehen – wir wissen bereits, wie wenig ihm diese Körperhaltung liegt.
Nun hat ihm der Papa einen kleinen Liegestuhl zum Gartenzaun hingestellt, von dem aus er bequem in Tante-Erika-Position gehen kann. Bei idealen äußeren Bedingungen könnte er dort plauschend ganze Nachmittage verbringen. Doch angeblich hat die Tante Erika auch noch etwas anderes zu tun, als sich von Theo Alltagsgeschichten erzählen zu lassen (behauptet der Papa). Aber sicher nichts Besseres.
Und auch mit der vierten Kategorie von Menschen, den Fremden, hat Theo überhaupt keine Probleme. Im Gegenteil: Er mag ihre schüchterne Art, ihr verhaltenes Lächeln, ihr verstecktes Zwinkern, ihre verschämten Winkversuche, ihre dezent wortkargen und auch in der Lautstärke stets maßvollen Bemerkungen.
Nie würden sie auf Theo losstürmen und ihn durch die Lüfte wirbeln. Nie würden sie sich an seinem Spielzeug vergreifen. Mit ihrem tiefen Respekt vor der Würde eines Kleinkindes und ihrer höflichen Distanziertheit kommen sie Theos Naturell im Ganzen und ihm selbst auf halbem Wege entgegen. Weiter wagen sie sich nicht. Diese Bescheidenheit schätzt er an ihnen ganz
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