Theologisch-Politische Abhandlung: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
sehen, wie das Volk in Ordnung gehalten wurde. Die Grundlagen des Reiches geben auch darüber volle Auskunft. Denn bei nur geringer Aufmerksamkeit sieht man, dass sie eine so starke Liebe in den Gemüthern der Bürger haben erzeugen müssen, dass ihnen nichts so schwer war, als das Vaterland zu verrathen oder von ihm abzufallen. Alle mussten so ihm ergeben sein, dass sie eher das Aeusserste als eine fremde Herrschaft erdulden mochten. Nachdem sie ihr Recht auf Gott übertragen, und ihr Reich ein Reich Gottes sein sollte, und sie allein dessen Kinder, die anderen Völker aber Gottes Feinde, so hegten sie deshalb den stärksten Hass gegen diese, da sie auch dies für fromm hielten (Psalm CXXXIX. 21, 22). Deshalb musste ihnen nichts schrecklicher sein, als einem Fremden Treue zu schwören und Gehorsam zu geloben. Es gab kein grösseres Verbrechen, und nichts Schändlicheres konnte bei ihnen erdacht werden, als das Vaterland, d.h. das Reich Gottes, zu verrathen. Schon das Wohnen ausserhalb des Landes galt als ein Verbrechen, weil man den Dienst Gottes, zu dem Jeder schuldig war, nur im Vaterlande üben konnte; denn nur hier war die heilige Erde; überall anders war sie unrein und weltlich. Deshalb klagt David über seine Verbannung zu Saul mit den Worten: »Wenn Dich welche gegen mich aufregen, so sind es verworfene Menschen, weil sie mich ausschliessen, dass ich die Erbschaft Gottes nicht betreten kann, und mir sagen: Gehe und verehre die fremden Götter.« Deshalb wurde auch kein Bürger mit der Verbannung bestraft, was bemerkenswerth ist; denn wer sündigt, ist zwar der Strafe, aber nicht der Schande verfallen.
Der Juden Liebe zum Vaterlande war deshalb keine einfache Liebe, sondern eine Frömmigkeit, welche mit dem Hass gegen die übrigen Völker durch den täglichen Gottesdienst gepflegt und so genährt wurde, dass sie zur anderen Natur wurde. Denn ihr täglicher Gottesdienst war nicht allein verschieden, sondern entgegengesetzt, und dadurch kam es, dass sie vereinzelt und von den übrigen Völkern getrennt blieben. Aus den täglichen Verwünschungen musste ein starker Hass entstehen, der sich fest in die Seele grub; denn es war ein Hass, der aus grosser Andacht und Frömmigkeit entsprungen und für fromm gehalten wurde, und einen grösseren und hartnäckigeren kann es nicht geben. Auch fehlte die gewöhnliche Ursache nicht, welche den Hass immer mehr entzündet. Dieser Hass wurde nämlich erwidert; die anderen Völker waren höchst feindselig gegen sie gesinnt.
Wie sehr Alles dies, die Freiheit in ihrem Staate, die Ergebenheit an das Vaterland, das unbeschränkte Recht auf alle Anderen und der nicht blos erlaubte, sondern fromme Hass gegen diese, die Feindschaft aller Anderen, die Eigenthümlichkeit ihrer Sitten und Gebräuche, ich sage, wie sehr dies die Gemüther der Juden stärken musste, um Alles mit besonderer Standhaftigkeit und Kraft für das Vaterland zu ertragen, lehrt die Vernunft deutlich und bezeugt die Geschichte. Denn sie haben, so lange die Stadt stand, nie unter fremder Herrschaft ausgehalten, und Jerusalem hiess deshalb die aufrührerische Stadt (Hezra, IV. 12, 15). Auch das zweite Reich, was kaum der Schatten des ersten war, da die Hohenpriester auch die fürstliche Herrschaft sich angemasst hatten, konnte nur schwer von den Römern zerstört werden, wie Tacitus im 2. Buch seiner Geschichten mit den Worten bezeugt: »Vespasian brachte den jüdischen Krieg durch die noch übrige Eroberung von Jerusalem zu Ende; ein hartes und schweres Werk, mehr wegen des Charakters des Volkes und seines hartnäckigen Aberglaubens, als dass die Belagerten die genügende Kraft, um die Noth zu ertragen, gehabt hätten.«
Ausser diesen nur von der Gesinnung abhängigen Eigenthümlichkeiten gab es in diesem festen Staate eine andere, welche die Bürger von jedem Abfall und von dem Verlassen des Vaterlandes zurückhielt, nämlich der Nutzen, welcher die Stärke und das Leben aller menschlichen Handlungen ausmacht. Denn nirgends besassen die Bürger mit grösserem Recht ihre Güter, als die Unterthanen in diesem Staate, die einen gleichen Antheil mit dem Fürsten an dem Lande und Aeckern hatten, und wo Jeder in Ewigkeit Eigenthümer seines Antheils blieb. Denn wenn Jemand aus Armuth sein Grundstück oder seinen Acker verkauft hatte, musste es ihm bei Eintritt des Jubeljahres zurückgegeben werden, und ähnlich waren andere Einrichtungen, welche den Verlust der Güter hinderten. Endlich konnte nirgends die
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