Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Österreich so um einige entscheidende Plätze zurückgefallen. Plausibel ist es allerdings nicht, daß sich dieselben Schulen mit denselben Lehrern und einer ähnlichen Schülerpopulation innerhalb weniger Jahre gravierend verschlechtert haben sollen. Hier gibt es nur zwei Erklärungsmöglichkeiten: Entweder der Test ist weniger aussagekräftig als allgemein angenommen, oder die in den letzten Jahren forcierten Schulreformen – Schulautonomie, Lehrplanreform, Stundenkürzungen, Erhöhung der Klassenschülerzahlen, EDV statt Deutschunterricht, Rechtschreibreform – waren absolut kontraproduktiv.
Man könnte sich einmal fragen, ob das, was mit dem PISA-Test gemessen wird, überhaupt zu den Hauptlernzielen der österreichischen und deutschen Schulen zählt. War es nicht sehr modern, in den letzten Jahren Lesen, Rechnen, Schreiben und Denken (Problemlösungskompetenz heißt das nun) als antiquierte Fähigkeiten zu denunzieren und durch Medienkompetenz, Teamfähigkeit, Soziales Lernen und Kommunikationsbereitschaft zu ersetzen? Wo sind denn die progressiven Didaktiker plötzlich, die uns jahrelang weismachen wollten, daß Lesen auch die Fähigkeit enthalte, rasche Bilderfolgen aufnehmen zu können und daß darin unsere Jugendlichen viel kompetenter als zum Beispiel Erwachsene seien, genauso wie im Umgang mit dem Computer, der bekanntlich das Rechnen überflüssig macht? Warum wirft eigentlich niemand den Konstrukteuren von PISA altmodische Vorstellungen von Wissen vor? Einsam und ganz allein und ohne Computer und ohne Bilder sollen Halbwüchsige komplexe Texte lesen und sogar verstehen? Welcher Schulpädagoge wagte dies heute noch zu fordern?
Es gibt, auch bei PISA, so etwas wie die List der Vernunft und die Paradoxie der Weltgeschichte. Was konservative Pädagogen seit Jahren nur hinter vorgehaltener Hand zu äußern wagten, ist nach ein, zwei Tests plötzlich wieder der Weisheit letzter Schluß. Daß die Fähigkeit, schwierigere Texte zu lesen und die Möglichkeit, sich in einer Sprache differenziert zu artikulieren, einen Wert darstellen könnte – darauf sind manche Menschen ganz ohne PISA auch schon gekommen. Wer immer in den letzten Jahren allerdings konstatierte, daß es mit der Lesefähigkeit des Nachwuchses nicht zum Besten bestellt sei, wer forderte, daß sich die Schule auf die Vermittlung zentraler kognitiver Fähigkeiten konzentrieren sollte, anstatt unter dem Diktat eines mutwillig vom Zaun gebrochenen virtuellen Wettbewerbs mit Lustbarkeitsangeboten aller Art zu werben, wurde als Kulturpessimist, als rückständig und reaktionär gebrandmarkt. Solche Warnungen lösten keinen Schock aus, wurden mit dem Hinweis auf die »moderne Schule« und das »neue Denken« schnell beiseitegeschoben. Nach PISA ist alles anders. Jetzt darf plötzlich wieder Lesen auf dem Lehrplan stehen, und Rechnen und vielleicht sogar Denken. Warum dieser Sinneswandel?
Die Antwort ist einfach. Nicht aus Einsicht in eine bildungspolitische Notwendigkeit, sondern weil es sich bei PISA um eine OECD-Statistik handelt und weil sich diese als eine internationale Rangordnungsliste präsentiert, wie wir sie von den Medaillenspiegeln der Olympischen Spiele kennen. Es geht also um eine Nationenwertung. Ohne diese wäre PISA eine Sache von Experten geblieben. Der Schock über die vermeintliche Bildungskatastrophe speist sich aus dem Ungeist der Sportberichterstattung und bestätigt so das, was er beklagt. Die aus diesem Kontext bekannten Formulierungen, mit denen solche Rankings kommentiert werden, sind kein Zufall. Wer heute Kommentare zur Bildungs- und Wissenschaftspolitik liest, weiß auf Anhieb nicht, ob er sich nicht im Genre geirrt hat: Es wimmelt darin von Elitemannschaften und Ausnahmekönnern, von Begabungsreserven und wie man sie unter die Top Ten bringt. Dort, wo es angeblich um den Geist gehen soll, verrät die Geistlosigkeit der Sprache die wahren Verhältnisse.
Erschütternder als die Ergebnisse von PISA ist die Gläubigkeit, mit der Rankings angebetet werden. Vorab kann die nahezu neurotische Fixierung auf Ranglisten aller Art als Rache der modernen Mediengesellschaft an den egalitären Prinzipien der Demokratie interpretiert werden. Wenn von Natur aus alle gleich sind, aber keiner den anderen gleichen will, müssen Unterschiede konstruiert werden. Eine Reihung verbindet den Gestus der Objektivität und Unbestechlichkeit mit einer unschlagbaren Weltorientierung: wissen, wo die Besten sind. Die Rangliste bestätigt das
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