Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Urvertrauen in eine hierarchische Weltordnung, das durch keine Revolution erschüttert werden konnte. Selbst ist die Rangliste allerdings darin vom demokratischen Geist durchdrungen, daß sie treuherzig suggeriert, daß keine Reihung unveränderlich ist. Während die gottgewollten Ordnungen der Vergangenheit ihre Hierarchien in alle Ewigkeit an wenige Parameter und ausgewählte Personengruppen und Institutionen zu koppeln trachteten, ist nun Bewegung in die Sache gekommen. Zumindest ihrer Ideologie nach verkündet die Rangliste, daß jeder es schaffen könne, die Nummer eins zu werden oder zumindest, wie das Mantra der neuen Religion lautet, im internationalen Spitzenfeld zu landen. Vor allem aber hat sich im Ranglistenwahn ein egalitäres Prinzip in seiner pervertierten Form erhalten: Es gibt nichts, was nicht gereiht werden kann. Vor der Rangliste sind alle gleich. Und so wird gereiht, inbrünstig und nach Herzenslust: Rechtsanwälte und Herzspezialisten, Junggesellen und Gymnasien, Universitäten und Hotels, Restaurants und Kindergärten, Forschungsinstitute und Manager, Banken und Versicherungen, Schönheiten und ihre Chirurgen.
Keine Reihung versteht sich jedoch von selbst, keine Rangliste fällt vom Himmel, gerade die Ideologie des freien Marktes erfährt im Ranking ihren Widerspruch und ihre Korrektur. Funktionierte der freie Markt in der Brutalität, die von vielen beschworen wird, wären Rankings überflüssig, da der Markt ohnehin als jene Instanz fungierte, die über Erfolg und Mißerfolg, Durchsetzungskraft und Schwäche entscheidet. Nach dieser Logik würden schlechte Schulen, mittelmäßige Manager, drittklassige Universitäten, todbringende Chirurgen und häßliche Models ohnehin irgendwann einfach verschwinden. Die unsichtbare Hand des Marktes würde unerbittlich die Reihung vornehmen. Natürlich steckte hinter einen solchen Verehrung des Marktes ein gerüttelt Maß an Geschichtsmetaphysik. Der Markt agiert bei den Vertretern der reinen Lehre wie weiland Hegels Weltgeist. Nicht darauf zu warten, wie der Markt entscheidet, sondern diese Entscheidung antizipieren, ja ersetzen zu können, suggeriert die Rangliste ebenso, wie sie den Markt dort nur simuliert, wo dieser gar nicht existiert. Daß nun Schüler aus Andalusien mit denen aus Lappland um die Ranglistenplätze der PISA-Studie konkurrieren, hat mit einem realen Marktgeschehen auch dann nichts zu tun, wenn man den Bildungssektor vollständig privatisieren und ökonomisieren würde. Die Nachricht, daß Schüler der finnischen Seenplatte besser abschneiden als solche aus inneralpinen Beckenlagen, wird zu keiner pädagogischen Völkerwanderung führen. Wohl aber profitiert die Touristikbranche von den Informationsreisen in das gelobte Siegerland, die jeder Bildungsexperte als säkulare Wallfahrt nun zu absolvieren hat.
Als entscheidendes Motiv für die generelle Verehrung von Ranglisten dürfte so die zentrale Gestalt einer fingierten Wettbewerbsgesellschaft figurieren: der Sieger. Es sind die PISA-Sieger und die Sieger der internationalen Hochschulrankings, die den Ranglisten ihre Aura verleihen und den schlechter Gereihten den entscheidenden Ansporn geben sollen: von den Siegern lernen und diese, wenn alles klappt, überholen. Im Exzellenzwettbewerb, dem sich etwa die deutschen Universitäten stellen mußten, um in den Genuß jener Förderungen zu kommen, die es ihnen ermöglichen sollen, zur Weltelite aufzuschließen, bestand eine Vorgabe darin zu beschreiben, was man zu tun gedenke, um zu den amerikanischen Spitzenuniversitäten aufzuschließen. Qualität bedeutet also heute, etwas, das man in Übersee vermutet, schlecht zu kopieren. Solche Ein- und Überholprogramme nennt die Bildungspolitik dann auch gerne ein »ehrgeiziges« Ziel, dem sich alles andere unterzuordnen habe. »Ehrgeiz«, schrieb Ludwig Wittgenstein, »ist der Tod des Denkens«. 43 Ein Blick in ranglistenfixierte Aufrüstungsprogramme der Schulen und Universitäten bezeugt die Wahrheit dieses Satzes. Der Verweis auf einen Ranglistenplatz, den man verfehlt hat oder den man erreichen möchte, erübrigt in der Regel jedes weitere Argument. Wer sich mit dem Satz: Ich sage nur PISA! jeder Diskussion zu entziehen vermag, hätte sich in einer Welt, die sich nur einen Funken Reflexionsvermögen bewahrt hat, hoffnungslos blamiert. Heute gilt er als Experte. Jenseits aller realen Bedürfnisse und Möglichkeiten fungiert die Rangliste als Steuerungsinstrument, mit dem eine Wissenspolitik
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