Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Vorgaben je explizit gemacht worden wären. Die Kriterien, nach denen solche Rankings erstellt werden – von der Zahl der Nobelpreisträger über Publikationslisten bis zur Höhe der eingeworbenen Drittmittel –, genügen zwar selten auch nur minderen Ansprüchen statistischer Methodenreflexion, werden jedoch widerspruchslos hingenommen. Damit werden diese Kriterien zu den eigentlichen Parametern, an denen sich Bildungsinstitutionen, die keinen Begriff von Bildung mehr haben, orientieren müssen.
Bedenklicher als der Leistungsabfall der Jugendlichen ist auch an PISA der verborgene normative Anspruch, der sich hinter solchen Tests verbirgt. Was sich nach den ersten Testreihen unter der Hand abzeichnete, ist nun beim dritten Test schon zum offiziösen Programm geworden: Die Schulen hatten sich besser auf PISA vorzubereiten, die Lehrer sollten ihre Schüler für die zu erwartenden Aufgaben trainieren, ungeachtet dessen, ob das mit den geltenden Lehrplänen vereinbar ist oder nicht. Die Schulen, wie immer sie organisiert sein mögen und wie immer das Milieu aussieht, in dem sie agieren, werden damit zu Trainingstätten für die heimlichen Lehrpläne der OECD-Ideologen. Daß kein einziges europäisches Land den Mut hatte, die Entwicklung der eigenen pädagogischen Kultur ungeachtet der PISA-Ergebnisse für vorrangig zu halten, zeigt, welch normativer Druck von solchen Tests ausgeht, auch wenn diese Normativität nicht intendiert gewesen sein mag. Aber einige Grundkenntnisse angewandter Soziologie hätten genügt, um zu wissen, daß eine empirische Bestandaufnahme, die sich in Zeiten der Wettbewerbsmanie in einer Rangliste manifestiert, nicht mehr Ausdruck einer Leistungsmessung, sondern Artikulation eines Imperativs sein wird.
Man kann die These riskieren, daß die normative Gewalt der Ranglisten ihre eigentliche Funktion darstellt. Rankings fungieren als ziemlich primitive, aber höchst wirksame Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen, die dem Bildungsbereich noch das letzte Quentchen Freiheit austreiben sollen, das ihm als Relikt humanistischer Ideale geblieben ist. Es sind im wesentlichen diese Ranglisten – nach deren Entstehungsbedingungen, sind sie einmal veröffentlicht, kaum jemand zu fragen wagt –, die nicht nur die Debatten über den Wert und die Qualität von Bildungseinrichtungen bestimmen, sondern auch die bildungspolitischen, organisatorischen und finanziellen Maßnahmen in Bewegung setzen. Evaluationen und Rankings dienen als wunderbare Vorwände, um Budgets zu kürzen, die Schließung von Instituten, Studienrichtungen, Fortbildungsangeboten und Wissenschaftsstandorten zu fordern oder die Gelder dorthin zu verlagern, wo man sich in Zukunft bessere Ranglistenplätze erhofft.
Wer heute angeblich Grundsätzliches zur Aufgabe der europäischen Universitäten verlautbart, spricht fast nur mehr über Rankingplätze, Investitionssummen, Kennzahlen, Studienabschlüsse, Drop-out-Raten und davon, wie es damit in den USA bestellt ist. Die Sache, um die es dabei geht, die Frage nach Sinn, Funktion und Status unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, die Frage der Erkenntnis, der Anspruch auf Bildung spielen dabei kaum noch eine Rolle. Hinter dem Weihrauch von Bewertungsritualen und Qualitätskontrolle kommt allmählich eine Umstrukturierung der Bildungslandschaft zum Vorschein, die eindeutig nicht mehr der Erkenntnis, der wissenschaftlichen Neugier und der akademischen Freiheit, sondern den Phantasmen der Effizienz, der Verwertbarkeit, der Kontrolle, der Spitzenleistung und der Anpassung verpflichtet ist: Gestalten der Unbildung allesamt.
5.
Wieviel wiegt Wissen?
I M Jahre 2004 gedachten die akademische Welt und die gebildete Öffentlichkeit mit angemessenem Respekt des 200. Todestages von Immanuel Kant, des einzigen deutschsprachigen Philosophen von unbestrittener Weltgeltung, wie ein Kommentator dieses Gedenkens anmerkte. Es mag Zufall sein, aber daß sich die Debatten um die Reform der Universitäten, wie sie in Deutschland und Österreich geführt wurden und werden, mit dem Gedenken an den 200. Todestag des preußischen Philosophen überschnitten, könnte es verlockend erscheinen lassen, darüber nachzudenken, wie es dem weltberühmten Denker, ohne den es keine moderne Wissenschaftstheorie, keine zeitgemäße Ethik und keine avancierte Ästhetik gäbe, an einer Eliteuniversität, wie sie immer wieder gefordert wird, wohl ergangen wäre. Läßt man Kants akademischen Werdegang kurz Revue passieren, muß
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