Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Wissens wird dieses, weil es längst seines Erkenntnisanspruchs beraubt wurde, in der Regel gar nicht besonders geschätzt.
Man könnte die These riskieren, daß in der Wissensgesellschaft das Wissen gerade keinen Wert an sich darstellt. Indem das Wissen als ein nach externen Kriterien wie Erwartungen, Anwendungen und Verwertungsmöglichkeiten hergestelltes Produkt definiert wird, ist es naheliegend, daß es dort, wo es diesen Kriterien nicht entspricht, auch rasch wieder entsorgt werden muß. Gerne spricht man von der Beseitigung des veralteten Wissens, vom Löschen der Datenspeicher und vom Abwerfen unnötigen Wissensballasts. Mit anderen Worten: Die Wissensgesellschaft behandelt ihr vermeintlich höchstes Gut mitunter so, als wäre es der letzte Dreck.
Die Wissensgesellschaft kann ihre Verachtung des Wissens natürlich nicht propagieren. Auch hier hilft ein bißchen Moral. Der Zeitgeist heftet sich unter dem Titel »Bildungsethik« an die Fersen dieses Problems und versucht die Bedingungen zu definieren, unter denen mit Wissen angemessen, nachhaltig und verantwortlich umgegangen werden kann. Fraglich ist allerdings, ob Wissen überhaupt ein Kandidat für ethische Reflexionen sein kann oder ob diese nicht auf die Handlungen von Menschen beschränkt werden müßten, die ein bestimmtes Wissen zur Voraussetzung haben. Was etwa seit langem unter dem Stichwort Technikfolgenabschätzung diskutiert und praktiziert wird, weist zweifellos solch eine ethisch-normative Komponente auf. Die moralische Qualität von Wissen ergibt sich erst in der Anwendung des Wissens, die mit bestimmten moralischen Grundsätzen kollidieren kann – etwa wenn der kurzfristige Nutzen einer Technologie langfristige Schäden bedeuten würde.
An dieser Stelle muß daran erinnert werden, daß es vor allem einer Ethik der Diskretion darum gegangen war, ein bestimmtes Wissen als solches für moralisch prekär zu halten. »›Ist es wahr, dass der liebe Gott überall zugegen ist?‹ fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: ›aber ich finde das unanständig‹.« 65 Dieser Kalauer Friedrich Nietzsches deutet zumindest an, daß es im Kontext sozialer Beziehungen immer bestimmte Formen des Wissens geben wird, die an sich einer moralischen Bewertung unterliegen, nicht erst ihr Einsatz oder ihre Anwendung. Unter Titeln wie Intimität oder Privatheit hatte die bürgerliche Gesellschaft solche Sphären zu definieren versucht, in denen der Wissenserwerb an sich als moralisch anrüchig galt und deshalb als Neugier, Voyeurismus, Eindringen in die Intimsphäre etc. denunziert wurde. Im Zeitalter von öffentlichen TV-Beichten, Webcams und Telephongesprächen in der U-Bahn haben diese Verbotszonen des Wissens stark an Verbindlichkeit eingebüßt, ja es gehört geradezu zum Programm dieser Technologien und Formate, jede Form von Diskretion zu desavouieren. Angesichts des omnipräsenten Kameraauges, das nun an die Stelle des allgegenwärtigen Gottes getreten ist, gibt es nichts Unanständiges mehr.
In der klassischen Theorie der Bildung fungierte das Wissen als moralisch qualifizierbare Kategorie insofern, als es das Ziel der Aufklärung, als sittliches Subjekt autonom denken und leben zu können, unterstützte und beförderte. Schon hier zeigt sich, daß Wissen als zunehmende Kenntnis und Beherrschung von Naturprozessen oder daran gekoppelten Technologien erst einem moralischen Imperativ untergeordnet werden muß, um ethisch diskutierbar zu werden. Dabei geht es nicht nur um die Auswirkungen der Eingriffe von Technik in Natur oder eine an konsequentialistischen Modellen orientierte Verantwortungsethik für Wissenschaftler und Ingenieure, sondern darum, daß Wissen selbst moralisch indifferent und deshalb moralisch disponierbar ist. Viel zu wissen oder auf seinem Gebiet ein ausgezeichneter Wissenschaftler zu sein, sagt über den moralischen Status nichts aus – nicht zuletzt die Karrieren von Wissenschaftlern aller Disziplinen in totalitären Systemen oder im militärisch-industriellen Komplex rezenter Großmächte geben darüber Auskunft.
Zumindest im Sinne Kants war ein gegenständliches Wissen genausowenig eine Quelle der Moral wie andere Eigenschaften oder Kompetenzen auch. Insofern der kategorische Imperativ Resultat einer praktischen Vernunft ist, die das Gute um seiner selbst willen will, hätte sich jedes Wissen, das auf Menschen angewendet werden kann, diesem Imperativ zu fügen.
Erst dort, wo Wissen in ein Persönlichkeitskonzept integriert wird,
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