Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
das den Menschen zum Souverän des sittlichen Handelns eben »bilden« will, ließe sich im strengen Sinn von einer Bildungsethik sprechen. Das Wissen wird dabei zu einem Moment im Kontext eines Bildungsprozesses, der ethisch relevant ist, weil überhaupt erst dieser Bildungsprozeß das mündige und verantwortungsfähige Subjekt formieren soll. Das Pathos der Erziehungsprogramme der Aufklärung war ebenso von diesem Konzept getragen wie die Bildungsreformen der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Bildung als Menschenbildung sollte der Garant für die Abwehr der inneren und äußeren Barbarei sein. Daß dieses Pathos hohl war, war schon der Bildungskritik des 19. Jahrhunderts bekannt.
Wie kaum ein anderer hatte Friedrich Nietzsche diese Kritik auf das Verhältnis von Wissen und Moral polemisch zugespitzt: Im Antichrist , einem seiner letzten Werke,schrieb Nietzsche: »Moral: die Wissenschaft ist das Verbotene an sich, – sie allein ist verboten. Die Wissenschaft ist die erste Sünde, der Keim aller Sünde, die Erbsünde. Dies allein ist Moral. – ›Du sollst nicht erkennen‹: – der Rest folgt daraus.« 66 Wissen, gerade das Wissen um den Menschen und seine Abgründe, steht in Opposition zur Moral, Bildung als radikaler Anspruch auf Selbstdurchsichtigkeit war unter dieser Perspektive immer auch eine Form der Moralkritik gewesen.
Die Verabschiedung der Bildungsidee in der Wissensgesellschaft löst diesen Zusammenhang von Ethik und Bildung allerdings nicht auf, sondern transferiert ihn auf andere Ebenen. Zu den Grundfragen einer normativen »Ökologie« des Wissens gehörte etwa immer das Problem, was von dem Gewußten und Wißbaren denn weiter erforscht und dann weitergegeben werden soll – mit anderen Worten: Welche Fächer und Inhalte, welche Traditionen und Schulen, welche Studienrichtungen und Forschungsschwerpunkte sollen angeboten und ausgebaut, welche eingespart, bekämpft und gestrichen werden.
Im Kontext eines Bildungsbegriffs, der noch das Ziel des mündigen Subjekts kannte, also etwa bei Wilhelm von Humboldt, ergab sich der Kanon der Fächer und Forschungen aus dem paradigmatischen Gehalt derselben für das allgemeine Verständnis der menschlichen Existenz und seiner Entfaltung – deshalb die Priorität der alten Sprachen und der antiken Kultur. Im Kontext einer globalen Konkurrenzideologie orientieren sich diese Selektionsprozesse des Wissens hingegen an imaginären und realen Wettbewerbsvorteilen.
Das Wissen wird von einem integralen Moment eines Menschenbildungsprozesses zu einem Mittel im Kampf um Märkte und industrielle Zukunftschancen. Radikal ausgedrückt: Der Leitcode der Wissenschaften, den Niklas Luhmann durch den Dual wahr / falsch gekennzeichnet hat, wird zunehmend überlagert und ersetzt durch den Code der Ökonomie: zahlen / nicht zahlen.
Wenn die Einwerbung von Drittmitteln für eine wissenschaftliche Qualifikation mehr zählt als das Verfassen einer Monographie, dann ist dieser Prozeß der Überlagerung im Wissensbetrieb zumindest sichtbar geworden. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt übrigens Nietzsches Schärfung des Verhältnisses von Wissenschaft und Moral ihre Aktualität: Denn nach wie vor erscheinen die erkenntnisleitenden ökonomischen und politischen Steuerungsmechanismen nur allzu gerne unter dem Deckmantel der Moral. Gerade im Gebiet der Human- und Sozialwissenschaften, aber auch in den angewandten Wissenschaften markiert die Moral in nahezu klassischer Manier die Verbotszonen des Wissens. Unbefangen etwa über Fragen der Ethnizität, Geschlechtlichkeit, Probleme der Migration oder die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu forschen, ist nahezu unmöglich geworden – die von der politischen Moral diktierten Forschungsergebnisse stehen in der Regel vorab schon fest.
Doch abgesehen davon: Jede »Ökologie« des Wissens muß Kriterien entwickeln, welches Wissen zugelassen und tradiert und welches Wissen vernachlässigt und vergessen werden kann. Ein bildungshumanistischer Ansatz orientierte sich dabei an einem dem Bildungsbegriff immanenten Ethos der Mündigkeit. Das Wissen wurde, zumindest idealiter, danach bemessen, inwiefern es die Autonomie und Selbstdurchsichtigkeit des Subjekts und damit die Handlungsfähigkeit des Menschen beförderte. Das danach ausgewählte Wissen war als implizite Voraussetzung für die Möglichkeit des Menschen, sich als moralisches Wesen zu begreifen, gedacht.
Ein wettbewerbsorientierter Ansatz findet die Selektionskriterien des Wissens
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