Theres
dieser Untergrundexistenz durchzuhalten. Die Illegalität : wie stets ein Raum mit brüchigen Wänden; jetzt aber wenigstens (sie wirft einen Blick in den Rückspiegel) mit der Aussicht nach draußen und zurück.
Wäre da nicht dieser Schatten über allem, auch über dem Licht. Ein Gefühl, schwer zu erklären: als hätte die Zukunft bereits stattgefunden oder als finde diese zur selben Zeit statt, in der sie ganz spontan handelt. Es erinnert vage an das Déjà-vu-Erlebnis, das sie als Kind häufig hatte, nämlich dass dem, was nun geschieht, bereits etwas vorausgegangen ist, dass Teile desselben längst geschehen sind. Verbunden damit ein starkes Gefühl des Unbehagens. Wie damals, als sie aus Italien zurückkam und Müller ihr einen Zeitungsausschnitt aus der Bild zeigte: BEGING ULRIKE MEINHOF SELBSTMORD ? Das alte Porträt, jetzt groß genug um mehrere Spalten zu füllen. Erinnert sich: dass sie sich vorbeugte, um zu lesen. Mehrere Gewährsleute glaubten unabhängig voneinander erfahren zu haben, dass sie sich irgendwo in Hamburg mit Gift das Leben genommen hatte (genannte Ursache: zunehmende Verzweiflung nach der Isolierung von der restlichen Gruppe; was für unglaubliche Lügen!); dass sie an unbekanntem Ort eingeäschert und dann in aller Heimlichkeit beigesetzt worden war. Ein weiterer Gewährsmann meinte obendrein zu wissen, unter welchem Namen sie vor ihrem Tod lebte: ELISABETH NEHLS . Dieser Name war auch auf einem kürzlich aufgestelltem Grabstein auf einem Hamburger Friedhof entdeckt worden. (Das angebliche Todesdatum stimmte mit dem Datum der Inschrift überein.) Erinnert sich: dass Müller ihr zunehmendes Unbehagen bemerkt und versucht hat, das Ganze lachend abzutun: Wenn sie nichts wissen, können sie nur ihre feuchten Träume raushängen. Genau davon träumen diese Bettpisser doch aufgegeilt jede Nacht: uns tot zu sehen. Und dass sie ihrerseits Müller betrachtet hat, das blasse, schüchterne Gesicht eines Jungen(erpicht darauf, als Erwachsener durchzugehen, würdig all der Aufgaben und Aufträge, die er nur allzu bereitwillig übernahm; jetzt wartete eine größere): Aber sie irren sich, Gerhard; du irrst dich – sie sind es, die sich selbst tot sehen werden!
Genau da hatte es begonnen. Noch am selben Abend hatten sie sich zusammengesetzt, um das, was Gerhard die endgültige Aktion nannte, zu planen: den Anschlag auf die Lügenmäuler (das Springer-Verlagshaus) und in Absprache mit Meins und Ensslin in Frankfurt die erforderlichen Sprengstoffaktionen zu kalkulieren. All das jetzt in Dunkel gehüllt. Nur an eins erinnert sie sich, an das Gefühl des Hasses . Nicht – wie früher – ein Hass, nach dem man greifen, ihn sich zu eigen machen wollte (Hass als Motivationsgrund), sondern ein Hass, der zum natürlichen Reflex, zum Schutzinstinkt geworden war. Sie sieht ihn vor sich wie die Rollläden, die die Mailänder Geschäftsleute Nachmittag für Nachmittag vor ihren Schaufenstern herunterkurbelten. Schweres, blankes Metall; das nackte Licht darauf unbarmherzig blendend, alles ausschließend. Auch der kleinste Rest an Zweifel weicht vor einem solchen Licht, auch die moralischen Skrupel, die sie möglicherweise gehabt hätte angesichts einer Aktion, bei der siebzehn Menschen unverschuldet zu Schaden kommen. Aber es stützt auch, stärkt; der Licht -Hass wie eine gewaltige einhüllende Glocke, in der es endlich möglich ist, sich zu konzentrieren und zu schreiben (die Gegensätze klar herausgestellt: Das habt ihr uns zugefügt; seht jetzt, was wir unsererseits bereit sind, euch zuzufügen) . Und ist es nicht so, dass ihre Sprache die ganze Zeit in Bereitschaft gelegen hat für diese Phase des Kampfes. Wo die Attentate in der Bundesrepublik aufhören, einzelne Vorkommnisse zu sein, und zum Exempel werden. Wie hier, so wird es bald überall in der kapitalistischen Welt geschehen. Ulrike dreht die Lautstärke des Autoradios auf ( Für jedes Problem das richtige Gerüst: STANNOW ), denkt: Wenn es doch jeder Zelle, jedem kämpfenden Kollektiv möglich wäre, den Kampf so auszurichten, dass eine Abweichung nicht einmal theoretisch möglich wäre. Das Primat der Praxis nicht als Notlösung zu verstehen, wie es so oft geschieht, sondern als unumgänglichen Akt der Konsequenz . Denkt: Die Lage in der Bundesrepublik: Verfassungsschutz, Grenzschutz. Die neuen Gesetze sprechen nur von einem: Umzingelung derWiderstandszellen, Isolierung. Die Reaktion kann nur als Erlösung wirken. Gramscis Lektion: Je stärker der
Weitere Kostenlose Bücher