Theres
entwachsen.
Erneut dieser gefügige und zugleich anbiedernde Zug, so als lade er seine Vernehmer ein, sich mit ihm auf eine Tribüne zu stellen, um gemeinsam ein fernes, fremdes, auf jeden Fall absurdes Geschehen zu betrachten, über das sie nur lachen konnten.
Doch als der Prozess dann beginnt, nehmen Bild & Co. keinerlei Rücksicht. Stattdessen ziehen sie es vor, die Namen der mehr oder weniger obskuren Mithelfer aufzugreifen, die Ruhland benennt: Personen, die zu irgendeinem Zeitpunkt mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger freiwillig, ihre Häuser, Wohnungen, in manchen Fällen auch Sommerdomizile den auf der Flucht befindlichen Tatbeteiligten überlassen hatten. Findet man in der langen Liste Namen mit einigem Renommee, wird das natürlich aufgebläht. Die entsprechende Person wird auf einigen Titelseiten vorgeführt und leistet dann, wie es das Szenario vorschreibt, pflichtschuldigst Abbitte: Ich habe es nicht gewusst; es ging ja nur um eine Nacht; ich habe mich stets von Gewalt als politischem Mittel distanziert et cetera . All das wäre wohl vollkommen in Ordnung – Herold sind die Namen all dieser Pfarrer und Professoren , wie Bild sie nennt, ohnehin bekannt – erhielte die Verschwörungstheorie dadurch nicht weitere äußerst ungesunde Nahrung. Sie gegen uns. Das stimmt zweifelsohne. Doch sind es nicht gerade diese Personen . Was übrigens hätte man von einem Haufen verwirrter Akademiker mit zweifelhaften Loyalitätsbindungen schon zu befürchten?
Herold konzentriert sich stattdessen auf andere, anscheinend unerhebliche Details in Ruhlands Zeugenaussage, Nebenwege, in die er hineinschlittert aufgrund seiner ungewöhnlich abschweifenden Art:
V.1: Sie erwähnten zuvor, dass ein großer Teil Ihrer Aufträge darin bestand, die Gruppenmitglieder an verschiedene Orte zu fahren?
B.: Ja, und ich erinnere mich besonders an eine Gelegenheit. Das war mit Anna, Entschuldigung: Ich meine natürlich Meinhof.Wir hatten irgendwo mitten in der Pampa gehalten. Ulrike wollte, ja, entschuldigen Sie, dass ich das sage, ja also: ein gewisses natürliches Bedürfnis verrichten.
V.2: Sie meinen, sie musste pinkeln!
B.: Ja, und als sie zurückkam, das ist wirklich seltsam, da hielt sie die Hände so hier vor dem Körper (zeigt es), und das war wirklich eine seltsame Nacht. Die Scheinwerfer brannten, und obwohl das Auto stand, war es, als würden die Insekten die ganze Zeit auf mich zugestürzt kommen, es war, als ob …
V.2: Herr Ruhland, bitte zur Sache!
B.: Ein Frosch.
V.2: Wie bitte?
B.: Ja, ich sagte, als sie die Hände öffnete, saß da ein Frosch drin.
V.2: Ein …
B.: Auf dem ganzen Rückweg saß der im Handschuhfach, und während ich fuhr, erzählte Anna, Entschuldigung Ulrike, eine lange Geschichte darüber, wie sie und ihr Bruder zu Hause in Jena, oder wo das nun war, immer Frösche gefangen haben.
V.2: Meinhof hat keinen Bruder, soviel ich weiß.
B.: Ach so, na ja. Aber als wir ankamen, ich meine, das muss mehr als dreihundert Kilometer von dem Platz weg gewesen sein, ließ sie ihn ins Gras hüpfen und sagte: »Ich weiß, dass er nach Hause findet, Frösche können etwas, was wir nicht können. Obwohl sie nicht wissen, wo sie sind, finden sie immer nach Hause.«
*
In dieser Nacht träumt Herold das erste Mal von Jena. Soweit er sich erinnern kann, ist er nie dort gewesen. Auch im Traum ist er nicht dort zu Hause. Vielleicht sieht er deshalb alles so deutlich.
Hochsommer, zwei Kinder an einem langsam fließenden Wasserlauf. Die Kinder bewegen sich an dem morastigen, glitschigen Ufer entlang, benutzen die mitgebrachten Kescher beim Balancieren. Sonnenreflexe gleiten über ihre Gesichter, machen sie blasser, als sie sonst gewesen wären. Herabhängende Äste berühren den Wasserspiegel, erzeugen winzige,fast unmerkliche Stromwirbel; ein Stück weiter vorn eine Brücke, und von der Brücke Verkehrsgeräusche: dumpf, nicht aufdringlich, als hätte die Sommerhitze einen dämpfenden Schleier über alle anderen Geräusche als die der Natur gelegt: das rasche Gurgeln des Wassers beim Überspülen höherer Bodenwellen, das eintönige Surren der Insektenschwärme, hier und da ein abrupter Vogellaut. Dann verliert er sie aus den Augen, und er spürt, dass er mehr sein muss als nur Zeuge in diesem Traum; ein Agierender, der Blätter und Zweige tatkräftig zur Seite biegt, um sich das Vorankommen zu sichern und den Gesichtskreis zu erweitern (ohne deshalb selbst sichtbar zu werden); und die beiden so erneut
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