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Theres

Theres

Titel: Theres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Öffentlichkeit richtet? Als er anfangs meinte, Baaders Gesicht in dem des Jungen zu erkennen, war das vermutlich nur eine Nachbildung, das Resultat allzu emsigen Studierens der Berichte, in denen es beharrlich schien, als seien die beiden ein Bündnis eingegangen. (Zum jetzigen Zeitpunkt glaubt Herold nicht an ein solches Bündnis. Die Unterschiede zwischen den beiden sind einfach zu groß, um eine harmonische Koexistenz zu gestatten.) Ruhland hat im Verhör jedoch ausdrücklich einen Bruder erwähnt, obgleich erwiesenermaßen kein solcher existiert. Selbst der nicht sonderlich intelligente Vernehmungsleiter hat in diesem Moment gestutzt.
    Ein Schatten, ein Reflex; oder etwas Realeres als das, was sich bisher aus Protokollen und Dokumenten ergeben hat? Herold lehnt sich im Lehnstuhl zurück, beide Hände im Nacken verschränkt:
    DEN DARM MIT ROTZ GENÄHRT, DAS HIRN MIT LÜGEN
    Denkt: Es gibt tausend Arten zu lügen, aber nur eine Wahrheit. Und wenn die Wahrheit, wie sie sein muss, einzig und unteilbar ist, dannmuss auch jede Lüge wenigstens ein kleines Fragment der versteckten Wahrheit enthalten. Als Herold das denkt, blickt er gleichzeitig zu dem Anschlagbrett hoch, auf dem er eine Xerokopie der Röntgenbilder von Meinhofs Schädel befestigt hat. Eigentlich sind es zwei Kopien, den beiden Gehirnhälften entsprechend, an deren unterem Rand die Silberklammer schimmert. Herold starrt auf das Bild, und plötzlich kommt ihm ein Gedanke, den er, wäre es Tag und sein Denken normal, für ungebührlich, nahezu pervers gehalten hätte: Wäre es möglich gewesen, dort einen kleinen Sender einzuoperieren, direkt in der Störzone zwischen den beiden Gehirnhälften. Dann könnte man die Transaktionen einfach abhören …
    Dann wäre die Sache gelöst; der Fall längst geklärt und beendet. Herold blickt auf die sorgfältig verfassten Protokolle der Vernehmungen Ruhlands, und sieht nun deutlicher als je zuvor, dass Ruhland nicht sendet, er bestätigt nur. Die Erkenntnis: Hier sind bedeutend feinkalibrigere Geräte vonnöten. Wer kann ihm diese geben?
    Es gibt nur eine.

Nacht der Festnahme

    1. Juni 1972, 07.25. Ulrike unterwegs von Hamburg nach Hannover, um mit Müller und Jünschke zusammenzutreffen. Das Autoradio läuft, Werbung ( KLUWE – alles zum Bauen, für Profis und Amateure ) im Wechsel mit alten Stones-Songs ( Time, time, time is on my side; yes, it is … ), trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad: wie immer ungeduldig, weil sie nicht schnell genug vorankommt, obwohl der Verkehr auf der rechten Spur in immer rascherem Fluss zurückgleitet. Tagesanbruch, doch schon heiß. Der Himmel ist klar; zugleich scheint die Luft in leichten Dunst gebettet, der die Landschaft undeutlich, fast konturlos macht. Ulrike spürt ein Bedürfnis nach größerer Tiefenschärfe; Deutlichkeit nicht nur bei Einzelheiten, sondern auch über große Entfernungen. Die Aufteilung jedenfalls geklärt ohne ernsthaftere Konflikte. Beschluss: Baader, Meins und Ensslin bleiben im Süden stationiert, mit Basis in Frankfurt und Stuttgart; sie, Müller und Jünschke im Norden. Eine praktische Arbeitsteilung, um die sie seit Monaten gekämpft hatte, um am Ende einzusehen, dass der Widerstand von Baaders Seite nur eine Prestigefrage war: seine mangelnde Bereitschaft, die Organisation als Ganzes aus der Hand zu geben. Schwer und unbeweglich sitzt er hinter dem großen Eichenschreibtisch in der Stuttgarter Professorenwohnung, spricht über die Gefahr der Zersplitterung ( wenn sich die Bullen etwas wünschen, dann, dass sie gegen uns einschreiten können, wenn wir einzeln agieren, ohne Kontakt zu zentralen Befehlsinstanzen ). Ulrike kontert mit Logistik . Für Verwirrung unter ihnen zu sorgen, indem man an vielen Orten gleichzeitig agiert: nicht so, als gäbe es kein Zentrum, sondern als ob das Zentrum überall ist. Und Baader muss widerstrebend einlenken, nicht so sehr aus Überzeugung, sondern aus Notwendigkeit: Die Beschäftigung mit der Sprengstoff-Frage , sein und Holger Meins’ Steckenpferd, nimmt allzu viel Zeit in Anspruch. Somit ist Ulrike »frei«, kann tun, was sie seitder Zeit in Berlin hatte tun wollen: die Rekrutierungsbasis auszubauen und zu vertiefen, das natürliche Abspringen aus den äußeren Kreisen durch neue, junge, ideologisch besser geschulte und moralisch besser gerüstete Kräfte aufzuhalten. Die Voraussetzung dafür, wieder schreiben zu können, und das Schreiben seinerseits die Voraussetzung dafür, weiter Monat für Monat in

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