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Theres

Theres

Titel: Theres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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gewöhnt. Stehen Kaffeetassen draußen, sind sie in der Regel abgewaschen und auf ein Tablett gestellt, versehen mit einer handgeschriebenen Mitteilung, wo andere notwendige Utensilien zu finden sind. Ulrike weiß somit sofort, was nunmehr auch die Polizei weiß: nämlich, dass dieser Mann der Person nicht unerschütterlich traute, die ihn am Abend zuvor angerufen und gefragt hatte, ob er zwei momentan auf der Durchreise befindliche »Kameraden« bei sich unterbringen könne. Ist Rodewald also ein Deserteur, ein Denunziant? Denunziation wird nur zu Denunziation, wenn man eine Sache, an die man glaubt, verrät. Woran glaubt Rodewald? Was glaubt Ulrike? Die Gewichte in der Waagschale sind seit einiger Zeit unmerklich verschoben worden; sie spürt es sehr deutlich: Sie ist nicht mehrTeil eines Kollektivs, und die Einsamkeit (die Gewissheit, verstoßen zu sein) ist irrsinnig schwer auszuhalten.
    Wäre erträglich, gäbe es Gerhard nicht. Du bist mein Pflegebruder , sagt sie, als er sich über das Sofa beugt und ihr vorsichtig die Schläfen unter dem nassen Lappen, den er ihr übers Gesicht gelegt hat, massiert; Müller: ein armer kleiner Schwuler, der aus irgendeinem Grund an ihr hing, der sich weigert, von ihrer Seite zu weichen, obwohl sie kaum mehr da ist. Von Meinhof (Ulrike Marie) ist nur noch die Hülle übrig; im Gatter des lähmenden Kopfschmerzes hat sie ihren zweiten Mädchennamen wieder angenommen, ist Frau Maria Luckow .
    » Luck-off« , sagt sie zu Gerhard.
    Gerhard steht auf, betreten. Der Satz – es ist sechs, ich gehe anrufen – kommt fast lautlos von seinen Lippen. Meinhof (Ulrike Marie) hört ihn und nickt. Frau Luckow hört nicht, lächelt nur in dem sie einhüllenden Kopfschmerzschleier. Die Tür schlägt zu. Sie hebt den Lappen vom Gesicht und geht hinaus, um ihn unter dem Kaltwasserhahn des vielleicht nicht sonderlich sauberen Badezimmers erneut nass zu machen. Erinnert sich an eine Natursendung, die sie einmal zusammen mit den Zwillingen gesehen hat und die von Grönlandwalen handelte, wie sie viele Kilometer weit unter der schützenden Eisdecke dahingleiten konnten, um dann, einen fast zwanzig Meter hohen Wasserstrahl ausstoßend, an die Oberfläche zu kommen. Ein geradezu schönes Bild der Illegalität , denkt sie; auch wenn sie sich jetzt, am Ende des Weges, mit einem schlaffen, lauwarmen Strahl aus dem Hahn begnügen muss. Sie bewegt die Küchenschere unter dem Wasserstrahl. Wenn sie die Schneide nach außen dreht, wird sie zum Messer. Aber eindeutig zu stumpf. Sie steckt die Schere stattdessen ins dunkle Haar und schneidet, ihrem geschwollenen Gesicht im Badezimmerspiegel heftig zugrimassierend, Strähne um Strähne ab, lässt sie ins Waschbecken fallen, bis sie den Abfluss verstopfen und der Wasserstand steigt. Hat sich ihr angebliches Alter ego, Nehls , so gefühlt, als sie in ihrer Einsamkeit und Isolation nur noch den Ausweg sah, Gewalt gegen sich selbst zu verüben? Doch muss die Verstümmelung nicht notgedrungen kontraproduktiv sein. Sie weiß, dass sie sich selbst nicht mehr gleicht, dass sie es nie mehr tun wird. Die Frage ist nur, ob sie es jemals getan hat.
    Es klingelt an der Tür. ( Das muss Gerhard sein , sagt sie zu Marias erschrockenem Gesicht im Badezimmerspiegel und entdeckt zu ihrem Erstaunen, dass aus den Augen der anderen Frau plötzlich Tränen rinnen.) Als sie öffnen geht, nimmt sie die Schere mit, versteckt unter ihrem schwarzen Oberteil. Aber die Männer, die draußen warten, sind an Scheren nicht interessiert.
    *
    Herrn »Herolds« Büro in der Wiesbadener Thaerstraße . Das Licht bleibt, obgleich die Dunkelheit dort draußen andauert. Der »Adjutant« klopft an der Tür und gibt sich durch seine Stimme zu erkennen.
    »A«: Es scheint, als ob man jemanden gefasst hat.
    »H«: Wer?
    »A«: Die Polizei in Hannover.
    »H«: Ich meine, wer ist es?
    »A«: Das ist noch unklar. Eine Frau um die vierzig. Bewaffnet, anscheinend auch mit Handgranaten ausgerüstet. Die Polizei vermutet, dass es Meinhof sein könnte.
    »H«: Und wieso?
    »A«: Die Röntgenaufnahmen von Frau Meinhofs Gehirnoperation sind in der Handtasche der Festgenommenen gefunden worden. Ich war mit einem gewissen Severin in Kontakt, der meinte, es gäbe nur eine einzige Methode, die Identität der Festgenommenen zu sichern.
    »H«: Den Schädel zu röntgen.
    »A«: Das ist außerhalb des regulären …
    »H«: Ich weiß.
    »A«: Und was soll ich Severin sagen?
    »H«: Sagen Sie, er soll die Operation zu

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