Theres
nichts anderes als zu warten. Wie viele Stunden können es noch sein; drei, vier? Sie denkt an das, was Croissant über die Angst gesagt hat; deren Angst. So äußerst sich der Kampf für diejenigen, die sich wirklich erinnern: eine Revolution, die nicht an jemands Gängelband verläuft, die entsteht, weil sie historisch notwendig ist und die deshalb unbezwingbar wird. Ulrike, allein in ihrer Zelle, lauscht, will diese Unbezwingbarkeit hören; die Schüsse, die in Stockholm fielen, einer nach dem anderen, wie die kurzen, trockenen Pendelschläge, die Vaters zahlreiche Wanduhren stündlich ertönen ließen: eine unausweichliche Erinnerung daran, dass dennoch etwas im Vergessen liegt, das Vergessen deshalb nur scheinbar ist, wie die Dunkelheit durchdringbar in jedem Augenblick; »der blinde Maulwurf der Geschichte, der Tag und Nacht rastlos Geschichte gräbt, bis er sich hinaus ins Licht gegraben hat«; nicht weil er will, sondern weil er muss : die eigentliche Erscheinungsform des Vergessens, des Verdrängten. Das ist die einzige Hoffnung.
Sie flicht ihr Haar, lässt das »Lebensband« über die Schulter hängen, dann über die andere. Langsam hellt sich der Himmel draußen auf. Doch mechanisch, ohne den geringsten Glanz: als wäre dieser nichts anderes als eine Form, eine graue Stahlhülse, auch gewölbt um all die anderen Käfige. Sie hört sie jetzt, Schlüsselrasseln in den Schlössern, schlurfende, näher kommende Schritte. Dann wird auch ihre Tür aufgestoßen. In der engen, gleichwohl blendenden Lichtöffnung zeichnen sich zwei abstrakte Gestalten ab:
Es ist jetzt höchste Zeit, Frau Meinhof …
Sie tritt zwischen ihnen hinaus. Es sind immer zwei, als könnten sie nicht anders als doppelt existieren: einer stets einen Schritt voraus, um die unendliche Reihe verschlossener Türen aufzusperren, die auf ihrem Weg warten. Fände das im Fernsehen statt, was es bald tun wird, wäre die Szene aus extremen Kamerawinkeln dokumentiert, wie wenn Handkameras einer gefeierten Schauspielerin auf ihrer Wanderung folgen, von der Bühnenloge durch die gewundenen Theatergänge, hinter der Kulissenmaschinerie hinaus bis zum endgültigen Betreten der Bühne. Doch ist hier nichts zu hören, nur das schwere Zuschlagen der Türen, rasselnde Schlüsselbunde; schlurfende, sich entfernende Schritte ( Machen Sie schon, beeilen Sie sich, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit ); dann nichts mehr: Die Stille schließt sich um sich selbst, als besitze sie allein an diesem Ort natürliches Heimrecht.
Der Prozess geht weiter
(Der Prozess hat bereits begonnen)
Wie in verschworenem Einverständnis mit seinen Zuschauern beugt sich ein Reporter des Südwestfunks flüsternd über sein Mikrofon. ( Das hier ist wahrhaftig ein historischer Augenblick. Zum ersten Mal seit vier Jahren kann die deutsche Öffentlichkeit mit eigenen Augen die Menschen betrachten, die zum Staatsfeind Nr. 1 der Bundesrepublik ernannt wurden! ) Das Gedränge am Eingang zum Sitzungssaal ist an diesem ersten Prozesstag allerdings so massiv, dass als Einziges der Widerschein der Kamerablitze an den weißen Wänden zu sehen ist. Erst nach einiger Verzögerung (mehrmals angekündigt durch den Ruf: Jetzt kommen sie, jetzt kommen sie … ) erscheinen die Angeklagten: Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe, an ihre Wärter gefesselt, während die für die Sicherheit Verantwortlichen vorauseilen. Erstaunlicherweise, eingedenk der früheren umfangreichen Berichterstattung über die Hungerstreiks, scheint sich keiner aus der versammelten Journalistenschar für den erkennbaren Gesundheitszustand der Gefangenen zu interessieren; stattdessen berichten sie über ihre Wahl der Kleidung und andere äußere Insignien. Somit erfährt die deutsche Öffentlichkeit, dass sich Andreas Baader, angetan mit »dunkelgrünem Pullover und braunen Manchesterjeans« im Gerichtssaal einfindet, während Gudrun Ensslin es vorzieht, vollkommen schwarz gekleidet aufzutreten (»schwarzer Pullover, schwarze Jeans, schwarze Turnschuhe«), dass Raspe ebenfalls »Pullover und Jeans« trägt, dazu eine rote Sonnenbrille, während Meinhof, dem Anlass zu Ehren, ihr Haar zum »kleidsamen Zopf« zusammengenommen hat. Nur ganz nebenbei werden Kommentare größeren Allgemeininteresses abgegeben. Sie sieht mitgenommen aus , bemerkt ein Journalist zu einem Kollegen (über Meinhof ), und der Kollege erwidert: Ganz klar hat sie unter der Haftzeit am schlimmsten gelitten. Kommentare, die nicht den Weg in irgendeinen Text
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