Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser
Ästheten nur ein Schauspiel, das eine Welt voller interessengesteuerter Illusionen zeigt, die der Künstler durchschaut und gestaltet. Er läßt immer den recht haben, der gerade redet, und vertieft sich mit gleicher Liebe in den Krieg wie in den Frieden. Er hat gleich viel Distanz zu allen. Er ist ein Ironiker, der das Leben zugleich liebt und verachtet. Das Leben ist, wie es ist, in Glück und Leid, und kann nicht wirklich verbessert werden. In der Summe halten sich Glück und Unglück immer die Waage, auch unter extremen Bedingungen. «Gab es im Ghetto kein Glück? Ich bin überzeugt, daß es dort welches gab.»[ 33 ]
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Lesetechnik
Thomas Mann las mit dem Bleistift. Er unterstrich, was ihm wichtig erschien, machte Randanstreichungen, Ausrufezeichen und Marginalien. Sie dienen oft der Selbstbestätigung. Der Krieg, so schreibt Thomas Mann über seine Lektüre von Dostojewskis
Politischen Schriften
, habe ihm eine «stürmische Dankbarkeit des Lesens» eingebracht, «der Bleistift fährt begeistert an ganzen Seiten hin, schwer fallen Ausrufungszeichen inniger Zustimmung am Rande nieder».[ 34 ] Man kann an seinen Büchern, sofern sie erhalten sind, deshalb genau ablesen, was ihn interessiert hat. Er las sehr gezielt auf das hin, was er gerade brauchte. Er las um des Buches willen, das erschrieb, nicht um des Buches willen, das er las. Die Lektürespuren geben immer auch ein Porträt von ihm – oft ein sehr originelles. Er unterstreicht so geschickt einzelne Sätze und Wendungen, daß langatmige Bücher plötzlich Zitate von aphoristischer Präzision hergeben. Das Angestrichene wird fast immer irgendwo verwendet, so daß umgekehrt die Suche nach den Quellen einzelner Zitate sehr erleichtert wird, wenn man die von ihm benützten Exemplare in der Hand hat. Aus Büchern, die dick und unübersichtlich waren, hat Thomas Mann auch geduldig abgeschrieben und die Exzerpte zu seinen Notizblättern gelegt – wobei es am Schluß manchmal keinen Unterschied mehr machte, ob ein Gedanke aus irgendeiner Quelle stammte oder von ihm selber war.
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Gelehrsamkeit
Das Finden, nicht das Erfinden mache den Dichter aus, hatte Thomas Mann in
Bilse und ich
geschrieben.[ 35 ] Schriftliche Quellen spielen in seinem Arbeiten eine ständig wachsende Rolle. Für die
Betrach tun gen eines Unpolitischen
wurden mindestens einhundert teils mehrbändige Werke verwendet (von denen etwa fünfzig in Thomas Manns Exemplar erhalten sind), ferner eine große Zahl von Aufsätzen und Zeitungsartikeln. Die Zauberberg-Bibliothek hat vermutlich ähnliche Ausmaße gehabt, und die für den Joseph-Roman füllt einen ganzen Bücherschrank. Freilich erfolgen keine mit wis sen schaftlicher Methodik vorgehenden Studien. Mann nimmt mit, was seine gut gepflegte Bibliothek hergibt, undwas ihm zufällig über den Weg läuft. Öffentliche Bibliotheken benützt er nur selten. Für die
Betrachtungen
wertet er Goethe, Nietzsche, Schopenhauer, Wagner und Dostojewski gründlich aus, bemüht sich aber, obgleich er sich auf vielen Seiten über Geschichte, Gesellschaft und Politik äußert, nur wenig um historische, soziologische oder politologische Fachliteratur. Er bezieht sein Material überall her, oft aus Zeitungsartikeln, unbekümmert um die Seriosität ihrer Machart. Er täuscht sehr geschickt eine Gelehrsamkeit vor, die er nicht hatte. Aber er hat einen sehr klugen Blick für das Richtige, und was er in den
Betrachtungen
über Politik schreibt, ist immer mindestens interessant, was er im
Zauberberg
über Medizin schreibt, hielt der Fachkritik stand, und was der Joseph-Roman über die Welt des Alten Orients weiß, fasziniert Alttestamentler, Orientalisten und Ägyptologen bis heute.
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Antisemitismus?
Unter den Eideshelfern für die
Betrachtungen eines Unpolitischen
gibt es viele Antisemiten – Dostojewski und Richard Wagner, Houston St. Chamberlain und Paul de Lagarde. Die Lektürespuren in diesem Quellenbereich sind jedoch mager, und zitiert werden die antisemitischen Äußerungen dieser Autoren nicht. Wenn Thomas Mann Antisemit wäre, wo sonst als in diesem radikalen Bekenntniswerk («Ich will
alles
sagen, – das ist der Sinn dieses Buches»[ 36 ]) hätte es zutage treten müssen?
Er war vielmehr ein bekennender Philosemit und hat das sein Leben lang in zahlreichen Essays kundgetan.Der ausführlichste hieß
Zur jüdischen Frage
. Er wurde im Herbst 1921 geschrieben, aber Mann zog den entschieden judenfreundlich votierenden Text vor Drucklegung zurück, weil
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