Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser
Himmel hervortritt».[ 21 ] Diese Namen bezeichnen für ihn «nicht intim deutsche, sondern europäische Ereignisse». Die Frage «Wer bin ich in nationaler Hinsicht?» zeigt deshalb zwar auf der einen Seite eine Parteinahme für Deutschland mit vielen radikal antifranzösischen und antienglischen Spitzen, auf der anderen Seite aber ein Deutschland, in dessen Seele «die geistigen Gegensätze
Europas
ausgetragen» werden.[ 22 ] Thomas Mann bekennt sich zur deutschen Nation («ich stehe mit meinem Herzen zu Deutschland»[ 23 ]), hat aber kein reines Gewissen dabei, denn er glaubt, selber «kein sehr richtiger Deutscher» zu sein.[ 24 ]
Wer bin ich politisch? Die Antwort scheint klar: «Ich will die Monarchie», erklärt der Unpolitische mit angehobener Lautstärke.[ 25 ] «Ich bekenne mich tief überzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht liebenkann, und daß der vielverschrieene ‹Obrigkeitsstaat› die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt.»[ 26 ] Konservative Programmpunkte ähnlicher Art ließen sich vermehren. Aber wieder gibt es die leise Stimme, die etwas anderes sagt: «Konservativ? Natürlich bin ich es nicht; denn wollte ich es meinungsweise sein, so wäre ich es immer noch nicht meiner Natur nach, die schließlich das ist, was wirkt.»[ 27 ] Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was der Mund redet, und dem, was der Mensch ist. Bloße Meinungen will der Schopenhauerianer unterschieden wissen vom Sein.
Wer bin ich ethisch? Kein Sozialphilanthropiker und Menschheitsrhetoriker wie der Zivilisationsliterat, sondern ein Leidensgenosse. «Die einzige Art, die Dinge
menschlich
zu sehen, ist, sie individuell zu sehen.»[ 28 ] Die Welt ist immer und zu aller Zeit voller Leiden, es ist nicht abschaffbar, aber es ist zugleich sehr relativ. Der Krieg bewirkt nicht nur Verrohung, sondern auch Verfeinerung.[ 29 ] Der Tod wird nicht schrecklicher dadurch, daß er sich verzehntausendfacht. Jeder stirbt nur den seinen, alle sind zum bitteren Tode verurteilt, «und es gibt Bett-Tode, so gräßlich wie nur irgendein Feldtod».[ 30 ] Jedes Herz ist nur eines begrenzten Maßes von Schrecken fähig, worüber hinaus es nicht nur Stumpfheit gibt, sondern auch Ekstase, sogar «Freiheit, eine religiöse Freiheit und Heiterkeit, eine Gelöstheit vom Leben, ein Jenseits von Furcht und Hoffnung, das unzweifelhaft das Gegenteil seelischer Erniedrigung, das die Überwindung des Todes selbst bedeutet.»
Wer bin ich religiös? Das Kapitel
Vom Glauben
wendet sich erst einmal gegen «Glauben» im Sinne einer feststehenden Ideologie und verhöhnt laut und ausführlich den Zivilisationsliteraten als einen selbstgefälligen Doktrinär. Die leise Stimme preist den Zweifel. Sie stellt sich einen Gott vor, der über aller Rechthaberei alles versteht und alles verzeiht: «Nein, der wahre Glaube ist keine Doktrin und keine verstockte und rednerische Rechthaberei. Es ist nicht der Glaube an irgendwelche Grundsätze, Worte und Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Zivilisation und Fortschritt. Es ist der Glaube an Gott. Was aber ist Gott? Ist er nicht die Allseitigkeit, das plastische Prinzip, die allwissende Gerechtigkeit, die umfassende Liebe? Der Glaube an Gott ist der Glaube an die Liebe, an das Leben und an die Kunst.»[ 31 ] Aber eigentlich findet Thomas Mann das noch zu pathetisch. Ich brüste mich nicht, Religion zu besitzen, sagt er am Ende des Kapitels. «Nein, ich besitze keine.» An die Stelle von Religion tritt etwas Bescheideneres. «Darf man aber unter
Religiosität
jene Freiheit verstehen, welche ein Weg ist, kein Ziel; welche Offenheit, Weichheit, Lebensbereitwilligkeit, Demut bedeutet; ein Suchen, Versuchen, Zweifeln und Irren; einen
Weg
, wie gesagt, zu Gott oder meinetwegen auch zum Teufel – aber doch um Gottes willen nicht die verhärtete Sicherheit und Philisterei des Glaubensbesitzes, – nun, vielleicht daß ich von solcher Freiheit und Religiosität etwas mein eigen nenne.»[ 32 ]
Wer bin ich ästhetisch? Im Künstlertum laufen alle Fäden zusammen. Die
Betrachtungen eines Unpolitischen
sind ein Manifest des Ästhetizismus, der sich hiernicht nur als Kunsthaltung, sondern als umfassende Lebens- und Welthaltung entpuppt. Das ganze Durchein an der der Meinungen, der ganze wirre Streit der Politiker, Moralisten und Doktrinäre ist für den
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