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Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser

Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser

Titel: Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kurzke
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Verlegenheitslösungen. Mit Thomas Mann gibt es ein ähnliches Einordnungsproblem. Bis 1914 folgen einander literarhistorische Moden oder Epochen wie Realismus, Naturalismus, Impressionismus, Fin de siècle, Neuromantik, Neuklassik und Jugendstil. Von allen hat Thomas Mann etwas, aber keine Bezeichnung trifft ihn ganz. Erst als mit revolutionärer Gebärde der Expressionismus auftritt, am Ende des Ersten Weltkriegs kulturell zur Führung kommt und den Avantgarde-Begriff für sich pachtet, wendet Mann sich dezidiert ab. Auch an der darauf folgenden, sprachlich kargen Neuen Sachlichkeit nimmt er nicht teil. Ab 1933 erlaubt die politisch bedingte Zersprengung der deutschen Literatur in Einzelschicksale kaum noch Epochenbegriffe alter Art. Auch Thomas Mann fühlt sich einzeln, keiner Gruppe zugehörig, und das bleibt so bis zu seinem Tod.
    Weil die Literaturgeschichtsschreibung keine passende Schublade anzubieten hatte, entstand das geräumige Etikett «Moderne Klassiker», das alle großen, schwer verortbaren Autoren des 20. Jahrhunderts versammelt – Kafka und Brecht, Musil und Döblin, Hesse, Benn und die Brüder Mann. Das ist, trotz mancherlei giftigen Gezänks innerhalb dieser Gruppe, auch in Ordnung, denn die Großen stehen in Verbindung. Die Geschichte der Literatur kennt große Wellen und auf ihnen aufschwimmend kleine.Goethes Lebenszeit überspannte den letzten Glanz und den Untergang des Alten Reichs, die napoleonischen Kriege und die Restauration. Auf der langen Dünung seines Lebens und Schaffens schaukeln viele kleine Bewegungen, vom Sturm und Drang bis zum Vormärz. Thomas Manns Lebenszeit überspannte den Glanz und den Untergang des Zweiten Kaiserreichs, linke und rechte Revolutionen, zwei Weltkriege und eine notdürftige Wiederherstellung danach. Auf der langen Dünung schaukelt wieder viel Kurzes.
    Die gewaltige Woge kam nicht aus dem Nichts. Sie unterhält rückwärtige Verbindungen und ist eine Aufschaukelung früherer Bewegungen. Thomas Mann ist literarhistorisch ein Erzeugnis des 19. Jahrhunderts, inspiriert von Größen wie Nietzsche, Wagner, Schopenhauer, Goethe, Turgenjew, Dostojewski, Flaubert und Ibsen. Mit diesem Instrumentarium konnte er die Schrecken des 20. Jahrhunderts bestehen. Er konnte den
Faust
des 20. Jahrhunderts schreiben, der Goethes
Faust
ins Pessimistische zurückbiegt. Es ist ergiebiger, Thomas Mann mit Goethe, Nietzsche und Wagner in Beziehung zu setzen als mit irgendeiner literarischen Strömung seiner Lebenszeit. Denn große und langhubige Wellen entstehen nur aus ihrerseits großen und langhubigen. Die Geburt der Moderne ist ein langer Prozeß. Modern ist nicht das Wellchen, das sich im jeweils letzten Jahrzehnt aufwirft, sondern die lange Dünung, die Thomas Mann und Brecht und Kafka trägt, und die noch längere, bis heute nicht verebbte, die Goethe trug.

Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
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Lob der Vergänglichkeit
    Wäre man ein Gott und geböte über die Zeit, dann hätte man zu allem jederzeit Zutritt. Aber es gäbe kein Streben und kein Nacheinander mehr, keine guten Vorsätze und keine Fortschritte, keinen Anfang und kein Ende – «und Zeitlosigkeit ist das stehende Nichts, so gut und so schlecht wie dieses, das absolut Uninteressante».[ 1 ] Im
Zauberberg
war noch vom «stehenden Jetzt» die Rede gewesen, und es war nicht uninteressant, sondern verlockend. «Die Lehrer des Mittelalters», so heißt es dort, «wollten wissen, die Zeit sei eine Illusion, ihr Ablauf in Ursächlichkeit und Folge nur das Ergebnis einer Vorrichtung unsrer Sinne und das wahre Sein der Dinge ein stehendes Jetzt.»[ 2 ] Versuche, die Wirkung der Zeit aufzuheben, gehören deshalb zur Traumwelt des
Zauberberg
. Im hohen Alter verliert die Aufhebung von Raum und Zeit als Sehnsuchtsziel an Bedeutung, und insbesondere die Zeit gewinnt an Achtung. Die Vergänglichkeit ist kein trauriger Jammer, sondern sie beseelt das Sein, weil sie eine wehmütige Rührung in unsere Betrachtungaller Dinge mischt und jedem Augenblick einen exklusiven Wert verleiht.
    Am Maßstab der Äonen gemessen ist die Bewohnbarkeit eines Himmelskörpers ein flüchtiges Zwischenspiel. Aber gerade dadurch gewinnt das Leben seinen Reiz und seine Würze. Es ändert sich ständig, und deshalb kommt es immer darauf an. Den richtigen Augenblick zu erfassen ist eine Kunst, ihn zu verfehlen ein Schmerz. Dem Menschen ist gegeben, «die Zeit zu heiligen, einen Acker, zu treulichster Bestellung auffordernd, in ihr zu

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