Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser
allerdings tunlichst vermeidet, ein Almosen legt, – und, Ew. Majestät, der Bettler weiß es; er ist sich der sonderlichen Würde bewußt, welche die Weltordnung ihm zuerteilt, und will im tiefsten Herzen nichts anders, als es ist. Die Aufwiegelung durch Übelgesinnte ist nötig, ihn an seiner malerischen Rolle irrezumachen und ihm die empörerische Schrulle in den Kopf zu setzen, die Menschen müßten gleich sein. Sie sind es nicht, und sie sind geboren, das einzusehen. Der Mensch kommt mit aristokratischen Sinnen zur Welt.[ 12 ]
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Kuckck
Im Speisewagen des Zuges von Paris nach Lissabon lernt Felix Krull Professor Antonio José Kuckuck kennen, seines Zeichens Paläontologe und Direktor des Naturhistorischen Museums in Lissabon. Thomas Mann wollte dem frivolen Roman, um dessen Würde er fürchtete, noch ein Gewicht mitgeben, damit er vor der Mit- und Nachwelt bestünde, und schuf eine Figur, die alle seine geistigen Väter versammelt.[ 13 ] Schopenhauer kommt zu Wort mit seiner Philosophie des Willens, der
einen
Naturkraft, die sich in allen Erscheinungen des Lebens individuiert,welche sich zugleich darüber hinwegtäuschen, daß ihre Vereinzelung nur vorübergehend ist und sie dem Tode zueilen. Das große Ja zu diesem Leben und zu dieser Täuschung, an der Stelle des schopenhauerischen Pessimismus, ist die Mitgift Friedrich Nietzsches. Dem Todestrieb widersteht, in der Terminologie Siegmund Freuds formuliert, der Lebenstrieb, die in allem Sprießen und Wuchern identifizierbare Sexualität. Daß er dem ganzen Treiben der Natur nicht feindselig, sondern mit einer alles umfassenden Sympathie begegnet, das verbindet Kuckuck mit Goethe. Daß die Welterotik auch ein Festspiel der Sinne ist, darin besteht der Beitrag Richard Wagners. Auch als Götterspiel läßt sich die Szene aufblättern. Kuckuck ist Vater Zeus, der seinen Sohn Felix-Hermes durch Himmel und Hades führt und ihm alle Geheimnisse eröffnet, von der ersten Urzeugung, die aus dem Nichts das Sein entstehen ließ, über die zweite, die das organische Leben aus dem anorganischen erschuf, zur dritten, durch die der Mensch sich allmählich aus der Pflanze und dem Tier heraufrang. Das waren höchst staunenswerte Vorgänge, Wunder, für die Krulls Gesprächspartner den zurückhaltenden Ausdruck verwendet, «ein Hinzukommendes» sei bei allen drei Urzeugungen erforderlich gewesen.[ 14 ]
Professor Kuckuck ist eine Patchwork-Persönlichkeit. Außer den bisher genannten Dichtern und Denkern wirken in ihm noch etliche Physiker, Biologen und Paläontologen zusammen. Wie er den Marquis de Venosta so hemmungslos mit seinem Wissen und seiner Begeisterung überschüttet, ist auch er ein Hochstapler. Aber was ist überhaupt ein Ich? AlsIdentitätspsychologe antwortet Thomas Mann: Es besteht aus lauter Rollen. Sein Kern, wenn es überhaupt einen hat, ist allemal winzig. Weil es so unendlich schwach ist, hat es ein kaum stillbares Anlehnungsbedürfnis. Es schafft sich vorübergehend Bedeutung und Größe, indem es spielt, aufsieht, zitiert und imitiert. Aber wenn es mit sich allein ist und sich gerade nichts vormacht, ist es ein Würmchen.
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Franzl
Das mußte Thomas Mann noch als 75jähriger erfahren, als sein Ich geradezu entmündigt wurde durch die Liebe zu dem Kellner Franz Westermeier. Es ist erschütternd, wie ihn das packt und beutelt. Das Tagebuch überliefert die Geschichte vom 25. Juni 1950 bis zum 8. November 1950 in allen Einzelheiten. Das Pathos ist herzzerreißend und kaum erträglich. «Der Gedanke meiner ‹letzten Liebe› erfüllt mich dauernd, ruft alle Unter- und Hindergründe meines Lebens wach.» (16. Juli) Die Grausamkeit des Liebesgottes, die Thomas Mann als Erzähler so oft beschrieben hat, beginnt an ihm ihr Zerstörungswerk, aber Katja und Erika stehen schützend um ihn herum und bewahren ihn vor größeren Torheiten. Er erlebt, was er Michelangelo in einem Essay zuschreibt, tief gerührt die «rettungslose Verfallenheit des Gewaltigen, weit über die schickliche Altersgrenze hinaus, an das bezaubernde Menschenantlitz»,[ 15 ] die dennoch eine Gnade ist, «welche ihn bei lebendigem Leibe zu den Seligen trägt». Konkret geschieht so gut wie nichts, ein Händedruck, freundliche Worte, ungeschickteHilfsangebote. Aber das Gefühl ist ungeheuer stark. «Schmerz um den Jungen dort.» (1. August) «Übermüdet von Gefühlsstürmen.» (8. August)
Thomas Mann leidet, aber er analysiert zugleich. Illusion, Illusion! schreit es in ihm, denn er
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