Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser
sehen, sie als Raum der Tätigkeit, des rastlosen Strebens, der Selbstvervollkommnung, des Fortschreitens zu seinen höchsten Möglichkeiten zu begreifen und mit ihrer Hilfe dem Vergänglichen das Unvergängliche abzuringen.»[ 3 ]
Die Hauptgedanken des Radioessays
Lob der Vergänglichkeit
hat Thomas Mann dem Gespräch entnommen, das der Paläontologe Professor Kuckuck mit Felix Krull auf der Fahrt nach Lissabon führt. Sie sind dort ein bißchen humoristischer, ein bißchen weniger pathetisch, aber sie umfassen auch dort sehr liebevoll die ganze Schöpfung, vom gewaltigen Getümmel der auseinanderstiebenden Milchstraßen bis zum moosigen Stein, der träumend im Bergbach liegt seit tausend und tausend Jahren.[ 4 ] Die Erde sei zwar astronomisch gesehen – so heißt es wieder im Radioessay – ein höchst unbedeutendes, um ein Sonnenstäubchen kreisendes Winkelsternchen, aber in tiefster Seele glaube er, daß es bei der Schöpfung genau auf sie und genau auf den Menschen abgesehen gewesen sei.[ 5 ]
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Glück
Glück kann man nicht kaufen. Das Glückliche am Glück ist seine Unberechenbarkeit. Das tiefe Glück ist immer ein unerwartetes Geschenk. Aber es gibt Gunstkinder, die ein besonderes Talent für Glück haben. Denen es von Geburt an entgegenfliegt. Die aber auch wissen, wie man mit ihm umgeht, und eine Art Glückskunst beherrschen. Sie glauben an das Glück und machen es sich zugleich gefügig. Sie halten die Welt, so wie Felix Krull, für eine große und unendlich verlockende Erscheinung, welche die süßesten Seligkeiten zu vergeben hat und deshalb jeder Anstrengung und Werbung wert und würdig ist.[ 6 ] Aber sie wissen auch, daß nicht in der Befriedigung das Glück liegt, sondern in der Kultur des Begehrens. Liebenswürdig ist nur der Verlangende, nicht der Satte. Thomas Mann singt das Hohelied der Sublimation. Die ganze Welt profitiert davon. Die allzu gründliche Befriedigung des Begehrens im Geschlechtsakt macht uns zu schlechten Liebhabern der Welt. «Ich für meinen Teil kenne viele feinere, köstlichere, verflüchtigtere Arten der Genugtuung als die derbe Handlung, die zuletzt doch nur eine beschränkte und trügerische Abspeisung des Verlangens bedeutet, und ich meine, daß derjenige sich wenig auf das Glück versteht, dessen Trachten nur geradeswegs auf dies Ziel gerichtet ist.»[ 7 ]
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Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
Eine Lebensgeschichte ist meistens eine Bildungsgeschichte, aber nicht im Falle Felix Krulls, weil dieser Hochstapler auf eine liebenswürdig-freche Weise immer derselbe bleibt – ob er Schokolade klaut, die Musterungskommission austrickst oder sich als Hoteldieb betätigt. «Bekenntnisse» klingt nach Augustinus oder nach Rousseau, also nach Bekehrung, Lebensbeichte, Geständnis, Selbsterkenntnis und tiefschürfender psychologischer Analyse, aber Felix Krull ist ein Schelm, kein Wilhelm Meister, er unterläuft das alles und bestätigt nur bewundernd sich selbst – was er nicht einmal verschweigt: «Ich war mir kostbar und liebte mich …»[ 8 ] Das Strukturprinzip des Buchs ist deshalb die Perlenkette. Episode folgt auf Episode, der Held bleibt gleich. Die Gefahr liegt in der Ermüdbarkeit. Liebesabenteuer auf Liebesabenteuer zu häufen verlor Thomas Mann die Lust, sobald er alle ihn interessierenden Fälle durchgespielt hatte. Es waren dies die Amme, an deren Brust Felix das erste Mal «die große Freude» kennengelernt hatte, das Zimmermädchen Genovefa, die ihn als Jugendlichen in die Geheimnisse des Geschlechts einweihte, die Prostituierte Rozsa, die ihn zum Meister dieses Fachs machte, die dichtende Klosettschüsselfabrikantensgattin Diane Houpflé, die von ihm erniedrigt zu werden wünschte, Lord Kilmarnock, dessen Begehren abgewiesen werden mußte, die siebzehnjährige Eleanor Twentyman, die ihm ein Kind schenken und mit ihm fliehen wollte, und das Doppelpaar Maria Pia und Zouzou Kukkuck, Mutter und Tochter, bei denen die Lust zwischenTat (Mutter) und Wort (Tochter) aufgeteilt werden mußte. Als nächstes sollte wohl eine Liebesgeschichte mit einem Zwillingspaar folgen, dann sogar eine Heirat, aber Thomas Mann ließ den Roman nach der Lissaboner Episode liegen und veröffentlichte ihn als Fragment. Die Geschichte hätte irgendwann im Gefängnis enden müssen, in dem sich der Held befindet, als er seine Bekenntnisse schreibt.
Der Höhepunkt seiner Laufbahn ist der Rollentausch mit dem hochvornehmen und sehr reichen Marquis Louis de Venosta. Krull imitiert ihn
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