Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser
kommen. Offenbar fühlte er sich unter Druck – ob moralisch oder nur politisch muß offenbleiben. Die Öffentlichkeit erfuhr nichts von diesem Vorgang. Thomas Mann hatte Ulbricht «nicht rhetorisch ‹vor aller Welt›, sondern von Mensch zu Mensch»[ 17 ] gefragt.
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Deutschland
Thomas Mann fühlte sich als ein exemplarischer Deutscher. Als er sagte «Wo ich bin, ist Deutschland»,[ 18 ] meinte er nicht das reale, sondern das musikalische, literarisch-philosophische, christlich-gesittete, romantisch-innerliche und zugleich skeptisch-aufgeklärte Deutschland seiner Vision. Die kleine Hoffnung, es nach dem Kriege wiederzufinden, zerstob rasch. Insbesondere Westdeutschland schien rapide unterwegs in Richtung Renazifikation zu sein.[ 19 ] Daß die Deutschen ihn nicht nur nicht mit offenen Armen empfingen, sondern oftmals geradezu haßten, folgte einem Muster, das in der Psychoanalyse als «Widerstand» bekannt ist: Das Verdrängte wehrt sich gegen den, der es aufdeckt. Schon immer hatte der Entlarvungspsychologe Thomas Mann mit diesem Muster zu kämpfen gehabt, aber angesichts der nach den Verbrechen der Nazizeit ins Ungeheuerliche angewachsenen Verdrängungsbedürfnisse wuchs auch der Haß ins Maßlose. Theodor W. Adornoschrieb damals an den Dichter des
Doktor Faustus
, das Verhältnis der Deutschen zu ihm sei «unbeschreiblich affektbesetzt», erfüllt «mit unendlich viel Verbogenem, Verkorkstem, Verstocktem, aber doch auch mit der Liebe, die hinter Verdrängungen steht». Die Deutschen schimpfen, meint Adorno, weil sie sich nicht zu lieben getrauen, und sie getrauen sich nicht zu lieben, weil Thomas Mann ihnen «etwas von der verdrängten Schuld ins Bewußtsein gehoben» hat. Ihre Auflehnung dagegen ist «der Versuch, das schlecht Verdrängte weiter zu verdrängen».[ 20 ] Es mußte eine Generation vergehen, bis sich das Verhältnis zu Thomas Mann entspannte.
Zur frühen Bundesrepublik unter Bundeskanzler Konrad Adenauer konnte Thomas Mann ein unbefangenes Verhältnis nicht entwickeln. Doch mied er öffentliche Kritik. In Privatbriefen und im Tagebuch äußerte er sich gelegentlich in einem Sinne, der als «links» und kommunistenfreundlich galt und in Zeiten des Kalten Kriegs im Westen höchst unerwünscht war. Die Wiederbewaffnung des westdeutschen Staates verfolgte er mit tiefem Mißtrauen.
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Slums
Slums gibt es im dichterischen Werk Thomas Manns nicht, ebensowenig wie Fabrikhallen, Sport are nen, Kanalrohre und Kondome. Nicht einmal Automobile kommen in nennenswerter Weise vor – eigentlich nur die des Milliardärs Samuel Spoelmann in
Königliche Hoheit
. Die marxistische Literaturkritik, die ihren letzten großen Auftritt in der Generationder 1968er Studentenbewegung absolvierte, hat aus diesen Begrenztheiten Vorwürfe entwickelt. Thomas Mann sei einäugig, bürgerlich, altmodisch etc., er behandele nur Freizeitprobleme, erörtere nur Intellektuellenkram, liefere Leseluxus für feine Leute. Daran ist etwas Richtiges, aber auch Selbstverständliches. Jeder macht das, was er ist. Thomas Mann war eben nicht Becher, Brecht oder Benn. Das Nichtvorhandensein eines Stoffes ist letzten Endes kein Kriterium. Denn nicht der Stoff macht die Dichtkunst aus, sondern die Form – die sprachliche Durchdringung, die zugleich eine seelische Durchdringung ist. Ein gerechterer Blick führt eher als zur Diagnose eines Mangels zum Erstaunen über eine Vielfalt. Wenn es künstlerisch notwendig war, konnte Thomas Mann exzellent auch Menschen außer halb seiner Sphäre gestalten. Er kannte die psychologischen Folgen sozialer Diskriminierung gut, wußte aber auch um den je eigenen Stolz jedes Standes. Wenn er sozial niederes Personal schildert, dann gerecht, humorvoll und genau. Das zeigen Figuren wie der Speicherarbeiter Corl Smolt in
Buddenbrooks
, der Schuster Hinnerke in
Königliche Hoheit
, der Straßensänger im
Tod in Venedig
, der Gärtner Glutbauch und die Zwerge im
Joseph
, die Stallhanne im
Doktor Faustus
, die Magd Jeschute im
Erwählten
, der Küchengehilfe Stanko, die Prostituierte Rozsa und die Trapezkünstlerin Andromache im
Felix Krull.
Thomas Mann ist eher Identitätspsychologe als Sozialkritiker, aber weil mit Identität jeder Mensch zu tun hat, lohnt die Lektüre seiner Bücher auch für jeden.
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Ein moderner Klassiker
Daß Wieland zur Aufklärung gehört und Eichendorff zur Romantik, darüber ist man sich schnell einig. Aber wohin gehört Goethe? Epochenbegriffe wie «Klassik» oder «Goethezeit» sind
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