Thorn - Die letzte Rose
von Hokkaido anders als das, das man von Japan kannte, geprägt von Klischees und Filmen.
Hokkaido war immer fremd geblieben, eine Welt für sich. Die Insel hoch im Norden hatte mit seinen infernalischen Naturgewalten und der wildromantischen Landschaft fortwährend die Phantasie der Menschen angeregt. Hier kursierten Tausende sinistre Sagen von Geistern, Göttern und Dämonen, die ihr Unwesen oder ihr perfides Spiel mit den Menschlein trieben. Allgegenwärtig waren sie, versteckten sich offenbar nicht wie anderswo hinter der brüchigen Fassade der Zivilisation, sondern ließen jedermann offen von ihrer Existenz wissen.
Gab es irgendwo auf der Welt noch Sagengestalten und Magie - Thorn war überzeugt, dann in Irland und hier.
So manche Wolkenformation schien wie nicht von dieser Welt zu sein, und heute demonstrierte dieses Zwischenreich seine Kraft ganz besonders. Es schien sich verschworen zu haben, ballte sich zusammen und stimmte ein düsteres Requiem für Takenaka Kiyoshi an.
Mit gesenkten Schultern, die Hände tief in den Taschen ihres wehenden Mantels vergraben, trottete Thorn die vier Stufen zur Eingangstür hoch.
Alles ringsum bestand aus hellem Holz; auf der überdachten Veranda stand noch der mit Sand gefüllte Fuß eines Sonnenschirms vom letzten Sommer, darüber hinaus zwei Stühle, die der Sturm umgestürzt hatte.
Thorn versuchte die Tür zu öffnen. Vergebens. Erwartungsgemäß war sie verschlossen, und als die Rosenritterin ihren Blick in die Düsternis richtete, entdeckte sie auch den gelbschwarzen, polizeilichen Klebestreifen, der die Tür versiegelte.
Damit hatte sie gerechnet. Denn hier war ein Verbrechen geschehen. Ein brutaler Mord. Eine abscheuliche Bluttat, zu abscheulich, um sie in Worte zu fassen. Für die die örtliche Kripo beim besten Willen keine Erklärung fand und deshalb den Ritualmord einer Satanssekte vermutete – wie immer, wenn man nicht weiter wusste.
Tausend Fragen und keine Antworten. Die fand man nur, wenn man wusste, Takenaka-san war seit mittlerweile fast dreißig Jahren bei der ROSE im Dienst gewesen.
Er hatte nicht nur Jagd auf die Blutsauger gemacht, er hatte sie auch erlegt. Ein Meister seines Fachs: skrupellos, erbarmungslos, rücksichtslos. Eine routinierte Tötungsmaschine, ohne nachzudenken. Er hatte die Vampire mit ihren eigenen Mitteln zunichte gemacht. Jede Sekunde Unschlüssigkeit konnte das eigene Ende bedeuten. Töten oder getötet werden.
Für Thorn war er immerzu ein Vorbild gewesen. Es gelang ihr nicht immer, gelegentlich hatte sie das Gefühl, zu oft zu überlegen, weil ihr Zweifel an ihrem Tun kamen.
Aber es war ihr eigener Weg, der seine Berechtigung verdiente. Viel zu selten hatten Soldaten im Laufe der letzten Jahrtausende nachgedacht und waren blind ihren Befehlen gefolgt – mit den bekannten Folgen. Thorn hingegen war ein wenig stolz darauf, dass sie versuchte, auch hinter die Kulissen der Vampire zu sehen, dass sie versuchte, deren Geheimnisse zu enträtseln, auch wenn ihr das selten genug gelang.
Fortwährend behauptete der Prokurator, sie mache es sich viel zu schwer, könne nicht abschalten, sondern stehe immer unter Volldampf. Früher oder später werde ihr diese Einstellung zum Verhängnis. Ein Urlaub hin und wieder würde ihr gut tun, außerdem müsse sie die Vampire einfach akzeptieren, wie sie sind: von Natur aus böse!
Dass dieser Ratschlag ausgerechnet von ihm kam, war umso erstaunlicher, denn gerade er hatte Jahrhunderte damit verbracht, sein Handeln zu hinterfragen. Später, irgendwann gegen Ende des 18. Jahrhunderts, war er dazu übergegangen, sich dem Lebenswandel der Menschen anzugleichen, und seit einigen Monaten fungierte er als Administrator der ROSE. Ein kluger Mann, von dem man profitierte, obwohl sich Thorn nie an den Titel ‚Prokurator’ gewöhnen würde.
Für sie war und blieb er ‚Ahasvers’ oder auch der ‚Ewige Jude’.
Der Mann, der Erzählungen zufolge für Pontius Pilatus gearbeitet und Jesus Christus bei einer Pause auf seinem Weg nach Golgatha geschlagen und angetrieben hatte. Dafür war er von ihm verflucht worden, bis zum Jüngsten Tag nicht sterben zu dürfen. Jedenfalls erzählte man sich das. Manche hielten diese Legenden für Allegorien über die Rastlosigkeit des jüdischen Volks, und auch Thorn war dieser Ansicht gewesen - bevor sie ihm begegnet war!
Allein die Tatsache, dass er jetzt Prokurator der ROSE war und noch immer existierte, gab zumindest einigen dieser Legenden wohl Recht.
Nein,
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