Thorn - Die letzte Rose
Witterung.
Eiskalte, rasende Windböen trieben ihr zornige Armeen von feisten Regentropfen entgegen, die in ihrem Gesicht leichtes Brennen auslösten. Es war August. Allzu lange würde es nicht mehr dauern, dann wurde der Regen zu Schnee und bedeckte das gesamte Land mit einem anmutigen Mantel, auf dass die Sünden, die das Jahr gesehen hatte, ungeschehen wurden.
Heftig rüttelte der Sturmwind an ihr: Das schlohweiße, schulterlange Haar klatschte ihr ins Gesicht, nur um wieder davon weggerissen zu werden.
Automatisch glitten ihre Hände über die beiden Schwerter, die sie im Gürtel trug. Eine Katana sowie das etwas kürzere Wakizashi, das klassische Schwertpaar eines Samurai. Die Berührung schien ihr gut zu tun, als schöpfe sie daraus die Kraft, weiter zu gehen.
Seitdem Thorn aus ihrem Mietwagen gestiegen war, verfing sich der Wind in ihrem Mantel; sie hatte ständig das Gefühl, bald abzuheben wie ein Paraglider. Sich schwerelos treiben und wo auch immer wieder an Land wehen lassen. Sich nicht den Kopf zerbrechen um Banalitäten, sondern für die neuen Perspektiven, die sich ihr dadurch bieten würden, einfach nur dankbar sein.
Ein humorloses Lächeln huschte über ihr Gesicht. Für derlei Glücksmomente fehlte ihr momentan nicht nur die Muße, sondern vor allem die Zeit. Doch Thorn war machtlos dagegen, ihr Oberstübchen spielte verrückt und ließ sich nicht besänftigen.
Nicht erst seit letzte Woche, als Susanna Sinclair, die Witwe eines Rosen-Knappen entführt worden war. Erst letzte Woche war das passiert … ? Es kam ihr fast vor wie Monate, so vieles war seitdem geschehen … Francine de Bors, die Drahtzieherin der Entführung, hatte sie nicht überlebt. Doch der Erste, wie man Rotauge in Vampirkreisen nannte, dessen Gunst de Bors damit hatte wiedergewinnen wollen, war es gelungen, Susanna zu verschleppen.
Wohin – Thorn hatte keine Ahnung! Schlimmer noch: Sie hatte nicht nur Susanna verloren, ihr war es auch nicht gelungen, Rotauge dingfest zu machen. Eine Stimme in ihr sagte zwar, irgendwann würde sie ihm abermals begegnen, schon allein weil er alles daran setzen würde, einen Schlussstrich unter ihre Auseinandersetzungen zu setzen. Dann wurden die Karten neu gemischt. Ob es dann für Susanna nicht schon zu spät war, wagte sie indessen zu bezweifeln.
Diese Gedanken beschäftigten sie tagein, tagaus. Am liebsten wäre sie nach Hause zurückgekehrt und hätte wie ein verletztes Tier ihre Wunden geleckt. Wenn die Welt untergegangen wäre, dann ohne sie, es hätte ihr nichts ausgemacht.
Das vielgerühmte i-Tüpfelchen, das ihren Einbildungen endgültig Tür und Tor sperrangelweit öffnete, war allerdings die grauenhafte Nachricht gewesen. Jener Telefonanruf des Prokurators der ROSE, der Thorn mitten in der Nacht aus dem Bett gerissen hatte.
Seitdem bewegte sie sich wie in Trance, hoffte sie, jemand würde sie endlich zwicken, damit sie erwachte und sich alles nur als böser Alptraum herausstellte.
Doch es war kein Alptraum. Es war die ungeschönte, widerwärtige Realität, die man ‚Leben’ nannte. Fast schon Routine und dennoch jedes Mal aufs Neue ein brutaler Schlag in den Unterleib.
In ihren Kniekehlen schienen rostige Dolche zu stecken, in ihrem Magen ein Nebukadnezer-Korkenzieher, und ihr Kreislauf tanzte Riverdance. Auch um ihren Hormonhaushalt war es alles andere als gut bestellt; sie zitterte ständig unmerklich, bebte am ganzen Körper. Jeder einigermaßen fähige Arzt hätte ihr sofort zwei Spritzen verpasst und sie für mindestens vier Wochen ins Sanatorium eingewiesen.
Auch dafür fehlte ihr leider die Zeit.
Keine zwei Stunden nach der Todesnachricht war sie in Frankfurt Rhein-Main im Flugzeug in Richtung Tokio gesessen. Von dort aus in zwei weiteren Stunden hoch nach Sapporo, in den Norden Japans, nach Hokkaido. Geschlafen hatte Thorn währenddessen keine Sekunde, dafür war sie viel zu aufgewühlt. Außerdem rauchte sie seitdem wie ein Schlot, doch aus Erfahrung wusste sie, das würde sich in ein, zwei Tagen geben. Zu viele Menschen hatte sie schon begraben, als dass es für sie neu gewesen wäre.
Der Jetlag mochte ein Übriges bewirken, doch all das waren lediglich Symptome ihrer verstauchten Seele und nicht der letztendliche Grund, weshalb ihre Stimmung in die tiefsten Kammern der Depression hinabgestiegen war.
Schon wieder war ein Mord geschehen!
Schon wieder ein toter Kollege!
Nein, kein Kollege. Ein Sensei! Ein Freund!
Erst Bruder Magnus von den Franziskanern, ihr
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