Thorn - Die letzte Rose
hatte, konnte sie nicht sagen. Vielleicht Tage, vielleicht auch nur wenige Sekunden. Sie tippte auf Letzteres.
Vor allem - sie lebte noch!
Besonders ihr Rücken schmerzte höllisch und machte ihr das unmissverständlich klar. Irgendwie musste sie den Boden unter den Füßen verloren haben, sie fand sich auf der Kellertreppe wieder, halb sitzend, halb liegend. Die Schwerter hatte sie verloren, und ihr Kopf ruhte auf Cesaros Bauch, der ohnmächtig die Augen gen Decke verdrehte.
Sie schüttelte sich, als wolle sie dadurch die Schleier vor ihren Augen vertreiben, dann jagte ihr Blick ans Ende des kleinen Ganges.
Fast hatte sie damit gerechnet, dass sich Rotauge nicht mehr dort befand. Die Kellerluke stand dafür sperrangelweit offen wie der Schnabel eines ständig hungrigen Spatzen in seinem Nest. Welchen Zauber der Vampir auch immer angewandt haben mochte, er hatte die Gunst des Augenblicks zur Flucht genutzt. Ein vages Gefühl sagte ihr, selbst wenn sie schneller gelaufen wäre, als sie dazu imstande war, sie hätte ihn nicht mehr eingeholt.
Schon wieder war er ihr entwischt.
Doch dieses Gefühl sagte ihr außerdem, sie waren sich nicht zum letzten Mal begegnet.
Als sie ein Geräusch von oben, vom Eingang zum Keller, hörte, fuhr ihr Kopf in diese Richtung. Es erstaunte sie ebenfalls nicht, dort einige der Mondvampire vorzufinden, ganz vorne Leo.
Das Hereinbrechen der Dunkelheit hatte aus ihren Gesichtern bestialische Fratzen gemacht. Borstige Mähnen erstreckten sich über ihre Köpfe, die Fangzähne ähnelten denen von Säbelzahntigern, und die Augen blitzten rot wie glühende Kohlen.
Hastig klopfte Thorn mehrmals mit der Linken gegen Cesaros Bein, um ihn aufzuwecken. Vergebens. Wo auch immer er sich insgeheim befand - jedenfalls nicht im Hier und Jetzt. Ihre Rechte näherte sich derweil der Pistole im Gürtel.
„Es ist vorbei“, stellte Leo fest und machte eine besänftigende Geste. Er wirkte völlig ruhig, ohne jede Aggressivität. „Wir kämpfen nicht.“
Trotzdem ließ es sich Thorn nicht nehmen, ihre Waffe zu ziehen.
„Die ROSE und das Pack sind bis jetzt ganz gut miteinander ausgekommen“, stellte der Mondvampir fest. „Daran soll sich jetzt nichts ändern.“
„Obwohl ihr euch mit de Bors verbündet habt?“, entgegnete sie sarkastisch.
Er bleckte seine Raubtierzähne zu einem Grinsen. „Sie hat uns mit der Gelegenheit auf Macht geködert. Jeder wäre da schwach geworden ...“
Zustimmendes Gemurmel erklang aus den Kehlen der anderen, einige nickten beipflichtend. Leo mochte zwar kein begnadeter Krieger sein, die Macht des Wortes stand dessen ungeachtet auf seiner Seite.
Allmählich kam Cesaro wieder zu sich, doch seine Bewegungen waren fahrig, unkontrolliert. Bei einem Kampf wäre er in dieser Verfassung bestenfalls geeignet gewesen, eine Kugel aufzuhalten.
„Was ist mit de Bors?“, wollte Thorn wissen.
Leo wirkte auf einmal gereizt. Mühsam musste er sich den Gefühlsausbruch verkneifen, doch der Glanz in seinen Augen nahm zu, als er wortlos einen Gegenstand hinab schleuderte.
Er prallte auf eine der Stufen, rollte von dort weiter nach unten und blieb zwei Stufen über Thorn liegen: Der abgetrennte Kopf von Francine de Bors!
„Sie hat uns betrogen“, grollte der Mondvampir. „Man betrügt das Pack nicht.“
Jäh verschwand der Zorn auf seiner Miene und machte einem Lächeln Platz. Er deutete eine Verbeugung an.
„Nur eines noch, Ritterin: Es war mir eine Ehre, mit Euch das Zimmer zu teilen.“
Kapitel 5
TOTENTANZ
Einst trafen sich zwei Samurai gleichzeitig an einem schmalen Steg. Der eine am rechten Ufer, der andere am linken. Beide wollten hinüber, doch der Steg war zu schmal für beide gleichzeitig, und keiner wollte dem anderen den Vorzug gewähren. Die beiden Krieger zogen sofort ihre Schwerter, bereit, sich den Weg freizukämpfen.
Doch dann hielten sie inne, steckten ihre Klingen wieder zurück und musterten stattdessen einander. Sorgfältig und mit aller Ruhe wogen sie die Stärken und Schwächen des Gegners ab und verglichen sie mit den eigenen. Nach mehr als einer Stunde des wortlosen Taxierens waren beide zu der Ansicht gelangt, sie waren gleichwertig.
Die beiden Samurai zogen ihres Wegs, keiner von ihnen betrat jemals den Steg.
Alte japanische Sage
Kies und Sand knirschten leise unter ihren Stiefelschritten.
Tatjana Thorn fror, zitterte am ganzen Leib und schlang deshalb die Arme um den Körper. Doch es lag nicht an der
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