Thorn - Die letzte Rose
es stand ihm nicht zu, ihr solche Ratschläge zu geben.
Thorn schluckte hart und warf einen weiteren wehmütigen Blick hinaus aufs furiose Meer, das in hohen Wellen gegen die Küste donnerte. Dann endlich gelang es ihr, sich zu überwinden, brach sie das Türsiegel mit dem Zeigefinger auf. Sie holte den Nachschlüssel aus ihrer Hosentasche und schloss auf.
Die Scharniere der hölzernen Tür mit Buntglassegmenten knarrten ein wenig, als die Klinke nach unten gedrückt wurde. Das Innere des Gebäudes war erfüllt von Finsternis, die Thorn intuitiv abschreckte. Irgendein findiger Polizeibeamter hatte es vorgezogen, die Jalousien herabzulassen. Meistens lauerten darin die Schatten, und die waren meist übermenschlich stark und schnell und hatten bizarr verlängerte Reißzähne.
Abermals kostete es sie Überwindung, als ihre Hand zur Seite glitt, auf der Suche nach einem Lichtschalter. Sie fand ihn gleich neben dem Eingang, genau dort, wo er schon bei ihrem letzten Besuch hier gewesen war.
Nichts! Die Deckenfluter blieben dunkel, es musste ein Defekt vorliegen. Auch gut, sagte sie lautlos seufzend, durch die Ritzen drang genügend Licht, um sich zurechtzufinden. Es musste reichen, auch wenn sie erfüllt war von einer imaginären Angst, die ihr die Kehle zuschnürte.
Ihr war, als betrete sie einen nächtlichen, verwaisten Friedhof, als sie über die Schwelle trat, fast andächtig einen Fuß vor den anderen setzte. Es kam ihr vor, als sei sie erst gestern zuletzt hier gewesen, dabei waren inzwischen doch schon über vier Jahre vergangen. Vier ereignisreiche Jahre, die sich als pure Hölle für sie entpuppt hatten. Damals noch zusammen mit Bruder Magnus.
Allein die Erinnerung an ihn ließ ihr Herz verkrampfen, ihre Beine wurden wacklig und kraftlos. Zwei unkontrollierbare Tränenströme wollten aus ihr hervordrängen.
Weg damit!, rief sie sich zur Raison, so gern sie auch für einige Sekunden in ihrer Trauer verweilt wäre. Auch dafür war jetzt keine Zeit, sie musste einen kühlen Kopf bewahren, auch wenn sich jede Faser ihrer Selbst vehement dagegen zur Wehr setzte.
Entgegen der Gewohnheit behielt Thorn ihre Stiefel an. Es gab hier im Haus nichts mehr, das beschmutzt werden konnte. Dafür war es jetzt zu spät.
Ja, tatsächlich. Alles war hier noch wie einst, stellte sie fest, schien noch genau an Ort und Stelle zu sein. Als sei die Zeit stehen geblieben. Jedoch nur auf dem ersten Blick und in der Dunkelheit.
Thorns Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen: Suchscheinwerfer, die einerseits versuchten, sich an das Zwielicht zu gewöhnen und andererseits, es zu durchdringen. Aufmerksam waren sie überall, wanderten umher und nahmen begierig jedes noch so belanglos erscheinende Detail auf.
Die meisten Möbel waren zerstört. Umgestürzte Stühle und Regale. Vasen, Karaffen, Flaschen und andere Gefäße lagen in Scherben auf den ausgebreiteten Tatami-Matten. Darüber hinaus Bücher, ein goldfarbener Buddha und mehrere Grünpflanzen. Steinchen der Hydrokultur waren überall verstreut; man fühlte sich, als würde man auf Murmeln gehen.
Eine mittelalterliche Samurairüstung, früher auf einer Schaufensterpuppe drapiert, lag zertrümmert halb auf einem Tischchen. Ein Arm der Puppe war entzwei; irgendjemand war in maßlosem Blutrausch darüber weggelaufen, ohne darauf zu achten. Daneben häuften sich Bilder von den Wänden und mehrere Dolche, die Takenaka-san als Trophäen aufgehängt hatte.
In einer der hölzernen Wände, die ins Schlafzimmer führte, klaffte ein mannsgroßes Loch, als sei ein Mammut mit ausladenden Stoßzähnen hindurchgerast.
Vorsichtig, darauf bedacht, auf nichts zu treten, durchquerte Thorn den Raum. Es ging ihr nicht um die Bewahrung von Spuren. Was immer es auch hier an Verwertbarem gegeben hatte, die Kripo hatte es längst gesichtet, fotografiert, in Plastiktütchen verpackt und ins Revier kutschiert. Nein, darauf kam es jetzt nicht mehr an.
Aber es wäre ihr wie Blasphemie vorgekommen, hier auch nur das kleinste Stück zu zertreten. Durch den Tod des Sensei war hier alles heilig und unantastbar geworden. Ein Sakrileg gegen sein Andenken.
Thorn seufzte leise, dann traf sie eine Entscheidung: Behutsam zwängte sie sich durch die Kluft in der Wand. Das Herz pochte ihr in den Schläfen, und ihre Nervosität drohte Überhand zu nehmen.
Im Schlafzimmer sah es um keinen Deut besser aus, im Gegenteil:
Blut! Widerwärtig hässliches Blut!
Alles war voll davon. Dick und zäh klebte es auf dem
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