Thorn - Die letzte Rose
Fußboden, dem Futon, dem umgestürzten Schrank, den Kissen - überall!
Als sei jemand bestialisch von einem Tier zerfleischt worden. Jemand, der verzweifelt um sein Leben gekämpft hatte, davor weggelaufen war – keine Chance! Die Bestien waren schneller gewesen, tödlich und erbarmungslos.
Ohne sich dagegen zur Wehr setzen zu können, erschien abermals jener imaginäre psychosomatische Kloß in Thorns Kehle, den sie so hasste und der sie immer dann am meisten quälte, wenn sie es am wenigsten gebrauchen konnte.
Der Prokurator hatte sie nicht nur angerufen, um ihr die traurige Nachricht zu überbringen und sie zu bitten, die Angelegenheit zu überprüfen, parallel hatte er ihr auch die Ermittlungsakten der örtlichen Kripo gemailt.
Nein, hier hatte kein Tier gewütet. Nicht einmal ein tollwütiges. Jedenfalls keines auf vier Beinen.
Wer hatte ihn ermordet? Über diese Frage zermarterte sie sich schon die ganze Zeit den Kopf. Mehrere kamen in Frage, die Liste war meist lang und illuster. Ein Rosenritter machte sich automatisch viele Feinde.
Vampire erschienen auf den ersten Blick am wahrscheinlichsten. Auch Onis waren nicht zu unterschätzen, eine örtliche Vampirrasse, die zudem über die Gabe des Gestaltenwandelns verfügte. Nur aufgrund ihrer spitzen Ohren, die sich nicht verändern ließen, waren sie zu erkennen.
Gegen diese Theorie sprach, man hatte hier weder Vampirblut der Gruppe X gefunden, noch Asche, zu der sie vergingen, sobald man ihr Herz zerstört oder sie geköpft hatte. Garantiert hätte Takenaka-san mindestens einen der Brut mit sich genommen, selbst wenn das Überraschungsmoment auf ihrer Seite gewesen wäre.
Von Bedeutung war, die Angreifer hatten darauf verzichtet, den Ermordeten auszutrinken. Bis auf das Blut, das aus seinen Wunden hervorgebrochen war, fehlte kein Tropfen. Kein Oni hätte sich dieses willkommene Futter entgehen lassen ...
Und ein Dämon? Hier auf Hokkaido gab es sie noch.
Kappas, Wassergeister, herrschten in der Meeresgischt und zogen gelegentlich in die Flüsse des Festlands. Auch eine Kolonie von Bushido-Dämonen fristete hier ihr untotes Leben, die Geister von Samurais, die nach der Japanischen Kapitulation im 2. Weltkrieg Seppuku, rituellen Selbstmord, begangen hatten. Seitdem fanden sie keine Ruhe und hatten den Legenden nach einen dunklen Pakt mit Luzifer geschlossen. Unselig warteten sie darauf, dass endlich ein Tenno den Thron bestieg, der nach ihnen rief, der ihrer Hilfe bedurfte und der sie dadurch erlöste.
Auch unwahrscheinlich, entschied Thorn. Die Bushidos verhielten sich ruhig, solange man sie nicht angriff. Es waren Dämonen von Ehre, für die sie gestorben waren.
Sie bemerkte, wie gespenstischer Lichtschein von außen durch die Ritzen der Jalousien ins Innere des Hauses drang.
Bald, wenn die Sonne am Horizont endgültig verschwunden war, würde hier stockfinstere Nacht herrschen. Wie in ihrem Herzen.
Still schob Thorn zwei herumliegende Kissen beiseite und glitt nieder auf den blanken Boden, die Beine im Schneidersitz verschränkt. Ihre Hände tasteten zaghaft nach den Schwertern an ihrem Gürtel. Bedächtig legte sie neben sich.
Jede ihrer Bewegungen war stoisch langsam, als befürchte sie, die Magie des Augenblicks zu zerstören.
Ihre Hand ertastete eine intakte Petroleumlampe neben sich und entzündete sie mit einem Streichholz.
Kurz darauf zuckte unheimlicher Flammenschein durch den Raum. Mächtige, bedrohlich wirkende Schatten wanderten umher, als hätten sich die Pforten des Hades geöffnet und sämtliche Pestilenz ausgespuckt, für die man dort keine Verwendung mehr fand. Sie jagten die Wände entlang, verschwanden und machten weiteren Platz, der unheiligen Nachhut.
Nein!, schüttelte sie den Kopf, nur für sich allein. Weder Vampire, noch Onis und erst recht keine Bushido-Dämonen töteten einen verdienstvollen Samurai, schlugen ihm den Kopf ab und nahmen diesen mit.
Vielleicht als Jagdtrophäe? Als Beweis für ihren Triumph? Sobald sich Thorn vorstellte, wie sich ein schwefelstinkender Vampirmeister damit brüstete, wurde ihr schlecht. Am liebsten hätte sie sich übergeben.
Schon während des Fluges hatte sie sich ständig diese eine Frage aller Fragen gestellt und war zu einem Resultat gelangt: Im Prinzip kam nur eine Person in Frage. Ein Mädchen, eine Frau - eine Vampirin!
Wenngleich Takenaka-san der felsenfesten Überzeugung gewesen war, sie sei ihm Freundin, Kameradin, sogar Tochter in einem gewesen.
Und für sie, Tatjana
Weitere Kostenlose Bücher