Throne of Glass – Die Erwählte
»Morgen erwartet mich eine Ratssitzung nach der anderen und Herzog Perrington wird nicht sehr erfreut sein, wenn mir die ganze Zeit die Augen zufallen.«
Celaena feixte. »Bestellt dem Herzog unbedingt meine wärmstenEmpfehlungen.« Sie würde niemals vergessen, wie Perrington sie bei ihrer ersten Begegnung in Endovier behandelt hatte. Dorian hatte es auch nicht vergessen. Und die Vorstellung, der Herzog würde sie wieder so behandeln, ließ kalte Wut in ihm auflodern.
Unwillkürlich beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange. Sie wurde starr, als sein Mund ihre Haut berührte, und obwohl der Kuss nur kurz war, atmete er dabei ihren Duft ein. Es war überraschend schwer, sich von ihr zu lösen. »Schlaft gut, Celaena«, sagte er.
»Gute Nacht, Dorian.« Beim Davongehen wunderte er sich, warum sie plötzlich so traurig wirkte und warum sie seinen Namen nicht zärtlich, sondern resigniert ausgesprochen hatte.
~
Celaena starrte an die in Mondlicht getauchte Zimmerdecke. Ein Maskenball am Julfest! Auch wenn dieser Hof der lasterhafteste und protzigste in ganz Erilea war, klang es furchtbar romantisch. Aber sie durfte ja nicht hingehen. Sie atmete tief durch und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. War es das, was Chaol sie hatte fragen wollen, bevor sie sich übergeben musste – ob sie ihn zum Ball begleiten wollte?
Sie schüttelte den Kopf. Nein. Sie zu einem Hofball einzuladen wäre wahrscheinlich das Letzte, was er tun würde. Davon abgesehen hatten sie beide ganz andere Sorgen. Zum Beispiel, wer einen Champion nach dem anderen ermordete. Vielleicht hätte sie ihn über Cains sonderbares Verhalten am Nachmittag informieren sollen.
Celaena schloss die Augen und lächelte. Sie konnte sich kein schöneres Julgeschenk vorstellen, als dass Cain am nächsten Morgentot aufgefunden würde. Sie sah die Zeiger der Uhr Stunde um Stunde vorrücken; trotzdem hielt sie Wache. Während sie wartete, fragte sie sich, was da wirklich in diesem Schloss lauerte. Und immer wieder dachte sie an die fünfhundert toten Eyllwe-Rebellen, die man irgendwo in einem Massengrab verscharrt hatte.
35
A m nächsten Abend stand Chaol Westfall im zweiten Stock des Schlosses und sah in den Garten hinunter. Unter ihm webten sich zwei Gestalten zwischen den Hecken hindurch. Celaena war in ihrem weißen Umhang gut zu sehen und Dorian erkannte man an dem leeren Raum, der ihn stets umgab.
Eigentlich sollte er auch dort unten sein, nur einen Schritt hinter den beiden. Er sollte ein Auge auf sie haben und sicherstellen, dass Celaena den Prinzen nicht angriff und als Geisel benutzte, um zu fliehen. Sein Verstand und jahrelange Erfahrung schrien ihm zu, dass er bei ihnen sein müsste, obwohl ihnen schon sechs seiner Leibgardisten folgten. Celaena war hinterlistig, gerissen, böse.
Aber seine Füße setzten sich einfach nicht in Bewegung.
Mit jedem Tag spürte er, wie die Mauer zerbröckelte. Er ließ sie zerbröckeln. Weil ihr Lachen so echt war, weil er sie eines Nachmittags dabei ertappt hatte, wie sie mit dem Gesicht auf einem offenen Buch eingeschlafen war, weil er wusste, dass sie den Wettkampf gewinnen würde.
Sie war eine Verbrecherin, eine begnadete Assassinin, eine Königin der Unterwelt – und doch … und doch war sie nur ein Mädchen, das man mit siebzehn nach Endovier geschickt hatte.
Der Gedanke daran machte ihn jedes Mal ganz krank. Er hattemit siebzehn seine Ausbildung bei der königlichen Leibgarde begonnen, aber er hatte immer noch hier gewohnt, immer noch ein Dach über dem Kopf, gutes Essen und Freunde gehabt.
Dorian hatte in dem Alter Rosamund den Hof gemacht und sich sonst um nichts gekümmert.
Aber sie war mit siebzehn in ein Todeslager gekommen. Und hatte es überlebt.
Er war nicht sicher, ob er selbst Endovier überleben könnte, und sicher nicht in den Wintermonaten. Er war nie ausgepeitscht worden, hatte nie jemanden sterben sehen. Er hatte nie gefroren und Hunger gelitten.
Celaena lachte über etwas, das Dorian sagte. Sie hatte Endovier überlebt und konnte immer noch lachen.
Es jagte ihm entsetzliche Angst ein, sie da unten nur eine Handbreit von Dorians ungeschützter Kehle entfernt zu sehen, aber noch viel größere Angst machte es ihm, dass er ihr vertraute. Und er hatte keine Ahnung, was das eigentlich über ihn aussagte.
~
Celaena ging zwischen den Hecken hindurch und musste die ganze Zeit lächeln. Sie liefen dicht nebeneinanderher, aber nicht so dicht, dass sie sich berührten.
Weitere Kostenlose Bücher