Throne of Glass – Die Erwählte
sie als Nächste dran? Was hatten diese Zeichen zu bedeuten? Nervös knetete sie die Finger. Als sie keine zehn Regale von der Nische entfernt um eine Ecke bog, blieb sie wie angewurzelt stehen.
Nehemia saß an einem Tischchen und starrte sie mit großen Augen an.
Celaena legte die Hand auf ihr rasendes Herz. »Verdammt«, sagte sie. »Du hast mich aber erschreckt!«
Nehemia lächelte, allerdings nicht sehr überzeugend, und Celaena ging mit schief gelegtem Kopf auf den Tisch zu. »Was machst du hier?«, fragte Nehemia auf Eyllwe.
»Ich konnte nicht schlafen.« Celaena warf einen Blick auf das Buch der Prinzessin. Das war nicht das Buch, das sie im Unterricht benutzten. Nein, es war ein dicker, alter Wälzer mit eng bedruckten Seiten. »Was liest du da?«
Nehemia klappte das Buch zu und stand auf. »Gar nichts.«
Celaena beobachtete das Gesicht der Prinzessin; ihre Lippen waren aufeinandergepresst und ihr Kinn in die Höhe gereckt. »Ich dachte, so schwierige Texte kannst du noch gar nicht lesen.«
Nehemia klemmte das Buch unter den Arm und wechselte in die Fremdsprache: »Dann bist du nicht anders als jeder unwissende Narr in diesem Schloss, Lillian.« Ihre Aussprache war perfekt. Ohne ihr Gelegenheit zu geben, etwas darauf zu erwidern, ging die Prinzessin davon.
Celaena sah ihr nach. Das ergab keinen Sinn. Nehemia konnte unmöglich so komplizierte Bücher lesen, wo sie sich doch sonst mühsam durch jede Zeile quälte. Und Nehemias Aussprache war sonst nie so fehlerfrei und …
Ein Zettel war hinter das Tischchen gerutscht und klemmte zwischen Holz und Steinwand. Celaena zog ihn heraus und strich das zerknitterte Papier glatt.
Sie wirbelte herum, in die Richtung, wo Nehemia verschwunden war. Mit einem Kloß im Hals steckte sie den Zettel ein und eilte zurück. Das Wyrdzeichen auf dem Papier brannte wie Feuer in ihrer Tasche.
Sie lief die Treppe wieder hinunter und eilte dann zwischen den Bücherregalen auf den Hauptraum zu.
Nein, Nehemia konnte sie nicht dermaßen zum Narren gehalten haben – niemals hätte sie ihr Tag für Tag vorgelogen, nur wenig zu wissen. Sie hatte ihr selbst gesagt, dass die Symbole im Garten Wyrdzeichen waren. Sie kannte diese Zeichen, hatte sie wieder und wieder gewarnt , ihr eingeschärft, sich von ihnen fernzuhalten. Weil Nehemia ihre Freundin war – nach der Ermordung ihrer Landsleute hatte sie bei ihr Trost gesucht.
Aber Nehemia kam aus einem eroberten Königreich. Der König von Adarlan hatte ihrem Vater die Krone vom Kopf gerissen und ihm seinen Titel genommen. Die Bewohner von Eyllwe wurden nachts aus ihren Häusern gezerrt und als Sklaven verkauft, zusammen mit den Rebellen, die Nehemia offenbar so leidenschaftlich unterstützte. Und fünfhundert Eyllwe waren gerade abgeschlachtet worden.
Celaenas Augen brannten, als sie in den Hauptraum zurückkam, wo sich ihre Wachen in den Lehnstühlen herumlümmelten.
Nehemia hatte allen Grund, ihnen etwas vorzumachen und irgendwelche geheimen Pläne zu schmieden. Diesen dämlichen Wettkampf zu sprengen und alle an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Wer war ein besseres Ziel als die Verbrecher, die im Schloss lebten? Niemand würde sie vermissen, aber trotzdem würde sich Angst verbreiten.
Doch warum sollte Nehemia es auf sie abgesehen haben?
36
D ie Tage vergingen, ohne dass sie Nehemia wiedersah, und Celaena verschwieg den Vorfall vor Chaol und Dorian und allen anderen, zu denen sie Kontakt hatte. Sie konnte die Prinzessin nicht zur Rede stellen – nicht ohne konkretere Beweise, sonst würde sie alles verderben. Also verbrachte sie ihre freie Zeit mit der Erforschung der Wyrdzeichen, versuchte verzweifelt, die Symbole in den Büchern zu finden, sie zu entschlüsseln, zu verstehen, was das alles zu bedeuten hatte und wie es mit dem Mörder und seiner Bestie zusammenhing. Trotz ihrer Sorgen bestand sie eine weitere Prüfung ohne Vorfälle oder Peinlichkeiten – anders als der Soldat, der nach Hause geschickt wurde – und setzte das intensive Training mit Chaol und den anderen Champions fort. Jetzt waren sie nur noch fünf. Die letzte Prüfung war in drei Tagen und der Zweikampf zwei Tage danach.
Am Julmorgen wachte Celaena auf und genoss die Stille.
Der Tag hatte einfach etwas Friedvolles, auch wenn er von ihrer seltsamen Begegnung mit Nehemia überschattet wurde. Das ganze Schloss war zur Ruhe gekommen und lauschte dem fallenden Schnee. Die Fensterscheiben waren mit Eisblumen bedeckt, im Kamin prasselte bereits ein
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