Throne of Glass – Die Erwählte
der Marmor war so hell, dass es sie beinahe blendete. Sie hatte Nehemia fast alles erzählt. Aber es gab Dinge, die sie niemals jemandem sagen würde, und auch Cain und den Ridderak hatte sie nicht erwähnt. Nehemia hatte nicht noch einmal gefragt, woher der Biss an ihrer Hand rührte, hatte sich neben sie aufs Bett gelegt und war bei ihr geblieben. Bis tief in die Nacht hatten sie geredet. Celaena war froh über ihre Gesellschaft gewesen. Nun, da sie wusste, wozu Cain fähig war, fragte sie sich, wie sie je wieder ein Auge zumachen sollte. Sie zog den Umhang fester um sich. Der Morgen war unnatürlich kalt.
»Ihr seid heute so still.« Chaol blickte nach vorn. »Habt Ihr Euch mit Dorian gestritten?«
Dorian. Er war letzte Nacht vorbeigekommen, aber Nehemia hatte ihn abgewimmelt, ehe er das Schlafzimmer betreten konnte. »Nein. Ich habe ihn seit gestern Mittag nicht gesehen.« Nach den Ereignissen der letzten Nacht kam es ihr vor, als wäre das mindestens eine Woche her.
»War es schön, auf dem Ball mit ihm zu tanzen?«
Klangen seine Worte ein wenig spitz? Celaena sah zu ihm hoch, als sie um eine Ecke bogen. Sie waren zu einem separaten Trainingsraum unterwegs. »Ihr seid recht früh gegangen. Ich dachte, Ihr würdet mich den ganzen Abend überwachen.«
»Es ist nicht mehr nötig, dass ich auf Euch aufpasse.«
»Es war von Anfang nicht nötig, dass Ihr auf mich aufpasst.«
Der Captain zuckte mit den Schultern. »Mittlerweile bin ich sicher, dass Ihr nicht weglaufen werdet.«
Draußen wirbelte der heulende Wind den Schnee auf und jagte ihn als glitzernde Welle durch die Luft. »Ich könnte nach Endovier zurückgeschickt werden.«
»Das wird nicht geschehen.«
»Woher wisst Ihr das?«
»Ich weiß es eben.«
»So viel Vertrauen ehrt mich.«
Chaol lachte in sich hinein und ging weiter Richtung Trainingsraum. »Kaum zu glauben, dass Eure Hündin nicht hinter Euch hergelaufen ist, bei all dem Gejaule, das sie gerade veranstaltet hat.«
»Wenn Ihr ein Haustier hättet, würdet Ihr Euch nicht darüber lustig machen«, erwiderte sie nachdenklich.
»Ich hatte nie ein Haustier; ich wollte nie eins.«
»Wahrscheinlich ein Segen für den armen Hund, der Euch sonst ertragen müsste.«
Chaol stieß ihr den Ellbogen in die Rippen. Sie grinste und stieß zurück. Am liebsten hätte sie ihm von Cain erzählt. Als Chaol vorhin in ihrer Tür gestanden hatte, war sie schon drauf und dran gewesen. Alles wollte sie ihm erzählen.
Aber das ging nicht, das war ihr gestern Abend klar geworden. Wenn sie Chaol von Cain und dem Ridderak erzählte, den er auf sie losgelassen hatte, würde er dessen Überreste sehen wollen. Und dann würde sie ihm den Geheimgang zeigen müssen. Er mochte zwar ausreichend Vertrauen zu ihr haben, um sie mit Dorian allein zu lassen, aber dass sie Zugang zu einem unbewachten Fluchtweg hatte, musste er dann doch nicht unbedingt erfahren. Sie wollte den Captain lieber nicht auf die Probe stellen.
Außerdem habe ich den Ridderak getötet. Es ist vorbei. Elenas geheimnisvolles Böses ist bezwungen. Jetzt muss ich Cain nur noch im Zweikampf besiegen, dann braucht niemand davon zu wissen.
Chaol blieb vor der Tür ihres Übungsraums stehen und drehte sich zu ihr um. »Ich frage Euch jetzt etwas, und das tue ich nur ein einziges Mal.« Er starrte sie so durchdringend an, dass sie von einem Bein aufs andere trat. »Wisst Ihr, worauf Ihr Euch mit Dorian einlasst?«
Sie lachte. Ein schroffes, krächzendes Geräusch. »Wollt Ihr mir in Liebesdingen einen Rat geben? Und denkt Ihr dabei an mich oder an Dorian?«
»An beide.«
»Mir war gar nicht klar, dass Ihr mich gern genug habt, um Euch Gedanken zu machen. Oder es überhaupt zu bemerken.«
Chaol war klug genug, nicht darauf einzugehen. Stattdessen öffnete er die Tür. »Denkt einfach daran, Euren Verstand zu benutzen, in Ordnung?«, sagte er über die Schulter zu ihr und betrat den Raum.
~
Eine Stunde später, noch keuchend und schwitzend vom Fechttraining, trocknete Celaena sich mit dem Ärmel die Stirn, als sie zurück in ihre Gemächer gingen.
»Ich habe neulich gesehen, dass Ihr Elric und Emide gelesen habt«, sagte Chaol. »Ich dachte, Ihr könnt Gedichte nicht ausstehen.«
»Das ist etwas anderes.« Sie ließ die Arme hin- und herschwingen. »Epische Dichtung ist nicht langweilig – und auch nicht pathetisch.«
»Ach?« Ein schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ein Epos über gewaltige Schlachten und grenzenlose Liebe ist also
Weitere Kostenlose Bücher