Throne of Glass – Die Erwählte
befreien? Sie wagte noch immer nicht, wirklich ehrlich darüber nachzudenken, wer sie verraten haben könnte. Damals, als man sie gefangen genommen hatte, war so viel auf einmal passiert – innerhalb von zwei Wochen hatte sie zuerst Sam und dann ihre eigene Freiheit verloren und in dem ganzen Durcheinander war ihr auch ein Teil ihrer selbst entglitten.
Sam. Was würde er jetzt tun? Wäre er bei ihrer Gefangennahme noch am Leben gewesen, hätte er sie aus den königlichen Verliesen befreit, noch bevor der König überhaupt davon erfahren hätte. Aber Sam war wie sie hintergangen worden – und manchmal vermisste sie ihn so schrecklich, dass sie sogar vergaß, wie man atmete. Celaena schlug eine der tieferen Tasten an. Der Ton erklang dunkel, vibrierend, voller Zorn und Trauer.
Mit einer Hand spielte sie behutsam eine einfache, langsame Melodie in einer höheren Tonlage. Widerhallende Erinnerungsfetzen stiegen aus den Tiefen ihres Bewusstseins auf. In ihren Räumen war es so still, dass die Musik fast aufdringlich wirkte. Celaena bewegte die rechte Hand über die schwarzen Tasten. Früher hatte sie dieses Stück so lange wieder und wieder gespielt, bis Arobynn sie anbrüllte, dass sie damit aufhören sollte. Sie griff einen Akkord, dann noch einen, fügte mit der rechten Hand ein paar perlende Töne hinzu, trat das Pedal und war in einer anderen Welt.
Die Töne strömten aus ihren Fingern, erst zögernd, doch dann mit mehr Sicherheit, als das Gefühl die Führung übernahm. Es war ein schwermütiges Stück, aber es verwandelte sie in etwas Reines und Neues. Sie war überrascht, dass ihre Hände nichts vergessen hatten, dass die Musik nach einem Jahr der Dunkelheit und Zwangsarbeit in ihr noch lebendig war. Dass Sam irgendwo zwischen diesen Tönen existierte. Sie vergaß die Zeit und ließ sich von einem Stück zum nächsten treiben, verlieh dem Unaussprechlichen Ausdruck, riss alte Wunden auf. Sie spielte und spielte und ihr war, als ob die Musik ihr verzeihen und sie retten könnte.
~
Dorian lehnte wie gelähmt am Türrahmen. Celaena spielte schon seit einer Weile mit dem Rücken zu ihm. Er fragte sich, wann sie ihn bemerken oder ob sie überhaupt jemals aufhören würde. Er könnte ihr bis in alle Ewigkeit zuhören. Eigentlich hatte er eine bissige Assassinin in Verlegenheit bringen wollen, stattdessen hatte er eine junge Frau vorgefunden, die ihre Geheimnisse einem Pianoforte anvertraute.
Dorian trat in den Raum. Trotz ihrer geschulten Wahrnehmung bemerkte Celaena ihn erst, als er sich neben sie auf die Bank setzte. »Ihr spielt wunder…«
Ihre Finger glitten auf den Tasten aus, die einen lauten Missklang erzeugten, und sie war schon halb beim Regal mit den Billardqueues, als sie ihn überhaupt erst richtig sah. Er hätte schwören können, dass ihre Augen feucht waren. »Was macht Ihr hier?« Sie sah zur Tür. Wollte sie etwa mit einem Queue auf ihn losgehen?
»Chaol ist nicht bei mir«, sagte er mit einem schnellen Lächeln. »Wenn Ihr Euch das fragt. Ich bitte um Verzeihung, falls ich gestört habe.« Zu seiner Verwunderung errötete sie, was für Adarlans Assassinin eigentlich eine viel zu menschliche Gefühlsregung war. Vielleicht sollte er seinen ursprünglichen Plan, sie in Verlegenheit zu bringen, doch noch nicht verwerfen. »Aber Ihr habt so wunderschön gespielt, dass ich …«
»Schon in Ordnung.« Sie ging auf einen der Stühle zu. Er stand auf und versperrte ihr den Weg. Sie war gar nicht so groß, wie er gedacht hatte. Er sah an ihrem Körper hinunter. Trotz ihrer durchschnittlichen Größe waren ihre Kurven verlockend. »Was macht Ihr hier?«, fragte sie noch einmal.
Er lächelte schalkhaft. »Wir wollten uns doch heute Abend treffen. Habt Ihr es vergessen?«
»Ich dachte, es war ein Witz.«
»Ich bin der Kronprinz von Adarlan.« Er ließ sich auf einen Stuhl am Kamin fallen. »Ich mache nie Witze.«
»Habt Ihr die Erlaubnis, hier zu sein?«
»Erlaubnis? Noch mal: Ich bin ein Prinz. Ich kann tun, was ich will.«
»Ja, aber ich bin Adarlans Assassinin.«
Er würde sich nicht einschüchtern lassen, selbst wenn sie ihn in Sekundenschnelle mit einem dieser Billardqueues aufspießen konnte. »Wenn man Euch spielen hört, hat man das Gefühl, dass Ihr weit mehr seid als das.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Nun«, erwiderte er und kämpfte dagegen an, sich in ihren wunderschönen, merkwürdigen Augen zu verlieren, »jemand, der so spielt, kann nicht einfach nur ein Verbrecher sein.
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