Throne of Glass – Die Erwählte
Schlossmauer hinaufkletterten, irgendetwas zu, aber in ihrer Höhe konnte sie es nicht mehr hören – der Wind trug seine Worte davon. Einer der Champions war nicht zur Prüfung erschienen – und nicht einmal seine Wachen hatten eine Ahnung gehabt, wo er war. Vielleicht hatte er es tatsächlich geschafft zu entkommen. Eine Flucht zu riskieren war wahrscheinlich ohnehin besser als diese verdammte, bescheuerte Prüfung. Celaena biss die Zähne zusammen, tastete mit der Hand nach der nächsten Ritze und stemmte sich ein Stückchen weiter hoch.
Gut fünf Meter über ihr und etwa neun Meter seitlich flatterte das Ziel dieses schwachsinnigen Wettkletterns – eine goldene Fahne. Die Prüfung war an sich einfach: am Schloss etwa fünfundzwanzig Meter bis zu der Fahne hinaufklettern und sie einholen. Wer als Erster bei der Fahne war und sie nach unten brachte, bekam ein Schulterklopfen. Der Letzte würde in die Gosse zurückgeschickt werden, aus der er kam.
Überraschenderweise war noch niemand abgestürzt – vielleicht weil der Weg zur Fahne ziemlich leicht war: Fast überall gab es Balkone,Fenstersimse und Gitter. Mit schmerzenden Fingern stemmte Celaena sich wieder ein Stück nach oben. Nach unten zu sehen war nie eine gute Idee, auch wenn Arobynn sie oft stundenlang an der Dachkante seines Unterschlupfs hatte stehen lassen, damit sie sich an große Höhen gewöhnte. Keuchend packte sie den nächsten Fenstersims und drückte sich hoch. Er war tief genug, um sich dort hinzuhocken, und für einen Moment sah sie den anderen Teilnehmern zu.
Wie erwartet, lag Cain in Führung. Er hatte den leichtesten Weg zur Fahne genommen. Grave und Verin folgten ihm, Nox dicht dahinter und Pelor, der junge Assassine, nicht weit unter ihm. Hinter Pelor drängelten sich so viele Champions, dass sie sich mit ihrer Ausrüstung ins Gehege kamen. Jeder von ihnen hatte sich für den Aufstieg ein Hilfsmittel aussuchen dürfen – Seil, Spikes, Spezialstiefel – und Cain hatte natürlich gleich nach dem Seil gegriffen.
Celaena hatte sich eine kleine Dose Teer genommen, damit fanden ihre klebrig schwarzen Hände und Füße mühelos Halt an der Steinwand. Sie hatte die Dose mit einem Stück Schnur an ihrem Gürtel befestigt, und bevor sie sich aus ihrer hockenden Haltung aufrichtete, rieb sie die Handflächen noch einmal ein. Unter ihr keuchte jemand, aber sie ignorierte den Impuls, nach unten zu sehen. Sie wusste, dass sie einen schwierigeren Weg gewählt hatte – aber das war immer noch besser, als sich gegen all die Gegner auf der leichteren Route zu wehren. Grave oder Verin war es glatt zuzutrauen, dass sie sie von der Wand stießen.
Celaenas Hände klammerten sich an den Stein, und kaum hatte sie sich nach oben gestemmt, hörte sie einen gellenden Schrei, einen dumpfen Aufprall und dann Stille, gefolgt von den Rufen der Zuschauer. Ein Mitbewerber war in die Tiefe gestürzt und nun tot. Sie sah nach unten und erblickte Ned Clement, den Mörder, der sich Scythe – »die Sense« – genannt hatte und für seine Verbrechen mehrere Jahre im Arbeitslager von Calaculla geschuftet hatte.Ein Schauder überlief sie. Der Mord am Augenfresser hatte zwar die meisten Champions gefügiger gemacht, doch anscheinend war es ihnen egal, wenn bei dieser Prüfung noch mehr Leute ums Leben kamen.
Celaena zog sich an einem Regenrohr hoch, die Oberschenkel ans Metall gepresst. Cain warf sein langes Seil einem anzüglich grinsenden Wasserspeier um den Hals, schwang sich über ein Stück flache Wand und landete knapp fünf Meter unterhalb der Fahne auf einem Balkongesims. Celaena unterdrückte ihren Ärger und arbeitete sich kontinuierlich an dem Rohr aufwärts.
Die anderen Wettkämpfer folgten Cains Weg nach oben. Wieder waren laute Stimmen zu hören und Celaena sah lange genug nach unten, um zu erkennen, dass Grave einen Stau verursachte, weil er sein Seil nicht wie Cain um den Hals des Wasserspeiers geworfen bekam. Verin drängte den Assassinen zur Seite und überholte ihn, wobei sein eigenes Seil mit Leichtigkeit das Ziel traf. Nox, jetzt hinter Grave, wollte es Verin nachmachen, aber Grave fing an, ihn zu beschimpfen, und Nox hielt inne und hob beschwichtigend die Hände. Grinsend stützte Celaena die teerschwarzen Füße auf eine Halterung, die das Regenrohr an Ort und Stelle hielt. Bald war sie auf gleicher Höhe mit der Fahne. Dann trennten sie nur noch zehn Meter nackten Steins vom Ziel.
Vorsichtig kletterte sie am Rohr weiter nach oben,
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