Thunderhead - Schlucht des Verderbens
sich eine Hand auf ihren Mund legte. In Panik versuchte Nora sich zu wehren, aber dann gab sie auf. Sie konnte nicht mehr.
»Seien Sie still!«, flüsterte ihr eine ruhige, sanfte Stimme ins Ohr.
Der Griff löste sich, und als Nora sich umdrehte, sah sie zu ihrem großen Erstaunen John Beiyoodzin vor sich stehen.
»Sie!«, keuchte sie.
Im Mondlicht glänzten die weißen Zöpfe des alten Mannes wie Quecksilber. »Pst!« Er legte seinen Zeigefinger auf die Lippen. »Ich habe Ihren Freund am anderen Ende des Tales versteckt.«
»Welchen Freund?«, fragte Nora, die nicht verstand, wovon Beiyoodzin redete.
»Den Journalisten, mit dem Sie bei mir waren. Smithback«, sagte er
»Bill ist am Leben?«
Beiyoodzin nickte.
Voller Freude und Erleichterung ergriff Nora Beiyoodzins Hände. »Haben Sie sonst noch jemanden gesehen? Roscoe Swire, unseren Cowboy, oder Aaron Black...«Etwas in Beiyoodzins Miene ließ Nora verstummen.
»Der Mann, der bei Ihren Pferden war, ist tot«, erwiderte er. »Sonst habe ich niemanden gesehen.«
»Tot? Das kann nicht sein. Roscoe war doch...« Sie senkte den Kopf und schwieg. Diese Nachricht ging über ihre Kraft.
»Ich habe seine Leiche in dem Eichenwäldchen gefunden. Die Skinwalker haben ihn getötet. Aber jetzt müssen wir fort von hier.«
Beiyoodzin löste seine Hände aus den ihren und wandte sich zum Gehen. Aber Nora hielt ihn erneut fest. »Ich habe einen von den Skinwalkern oben in der Stadt erschossen«, sagte sie, wobei sie mit den Tränen kämpfte. Sie musste jetzt stark sein. »Aber es gibt noch einen Zweiten. Er ist verwundet, aber ich glaube, dass er noch lebt und sich irgendwo hier unten im Tal herumtreibt.«
Beiyoodzin nickte. »Ich weiß«, sagte er. »Deshalb müssen wir jetzt auch weg.«
»Aber wie?«
»Ich kenne einen geheimen Pfad. Die Skinwalker benutzen ihn, um hierher zu kommen. Er ist sehr schwierig zu begehen, aber wir müssen Ihren Freund von hier fortschaffen.«
Beiyoodzin setzte sich in Bewegung und ging im Mondlicht, das unruhige Schatten auf den Boden des Tales zeichnete, raschen Schrittes auf den Felssturz am Ende des Canons zu. Hier, wo der vom Hochwasser geschwollene Fluss sich in einem wilden Wasserfall in den schmalen Slot-Canon ergoss, war das Rauschen des Wassers sehr viel lauter, und dichte Wolken von Sprühnebel hingen in der Luft. Ohne zu zögern trat Beiyoodzin durch den Vorhang aus Dunst und verschwand. Nora folgte ihm.
Sie stand auf einem schmalen, schräg abfallenden Felsband, das offenbar von Menschenhand in die Wand des Canons gehauen war. Es nahm direkt neben dem Wasserfall seinen Anfang und führte an dem Katarakt entlang zunächst ein Stück nach unten. Da in der engen Schlucht das Mondlicht sehr viel schwächer war als draußen im Tal, musste Nora höllisch aufpassen, auf dem glitschigen, moosbewachsenen Fels nicht den Halt zu verlieren. Ein einziger Fehltritt, und sie würde in das schäumende Wasser stürzen und dem sicheren Tod in einem Schlund aus rasiermesserscharfen Felsen entgegentreiben.
Nach einer Weile wurde der Pfad weniger steil, und dichte, aus dem Wasser aufsteigende Nebelschwaden hüllten sie ein wie ein weißer Mantel. In dem ständig feuchten Mikroklima hatte sich eine Vielfalt von Moosen und seltsamen Hängepflanzen entwickelt.
Beiyoodzin teilte einen Blättervorhang aus riesigen Farnen, und da sah Nora im Schatten dahinter Smithback auf dem Boden kauern. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen und wartete auf Beiyoodzins Rückkehr.
»Bill!«, rief sie, als der Journalist sich mit einem Ausdruck ungläubiger Freude auf dem Gesicht erhob.
»O mein Gott!«, seufzte er. »Nora! Ich dachte schon, du seist tot.« Er umarmte sie schwach und küsste sie immer wieder.
»Wie geht es dir?«, fragte sie und berührte vorsichtig die hässliche Beule an seiner Stirn.
»Ich muss Sloane wohl dafür dankbar sein, dass sie mich bewusstlos geschlagen hat, denn der Schlaf hat wahre Wunder gewirkt«, erwiderte er mit einem schiefen Grinsen, doch seine schwache Stimme strafte seine Worte lügen. »Aber wo ist sie eigentlich? Und wo sind die anderen?«
»Wir müssen weiter!«, drängte Beiyoodzin.
Er deutete auf den gewundenen Pfad, der sich im Fels des Canons nach oben wand. Im fahlen Mondlicht kam es Nora so vor, als wäre der kaum sichtbare, schmale Weg, der in Serpentinen an Felsspitzen vorbei und über tiefe Spalten in der Wand führte, eher für Gespenster passierbar als für Menschen.
»Ich gehe als Erster«, sagte
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