Thurner, M: Elfenzeit 18: Rache der Verbannten
erkannte sie augenblicklich. Sein Herz tat einen Sprung. Sie war so hübsch, so nobel, so … alles.
»Mutter!«, rief er. Ohne es zu wollen, sank er vor ihr auf die Knie, überwältigt von seinen Emotionen und seinem Schmerz. Tränen schossen in breiten Bächen aus seinen Augen, seine Glieder zitterten. Alebin ließ das Schwert achtlos fallen. Plötzlich fehlte ihm jegliche Kraft, um auszuführen, wozu er den weiten Weg auf sich genommen hatte.
Niemand sagte ein Wort. Alle warteten, bis seine Tränen versiegten und er wieder auf die Beine kam. Ein schlanker, wohlgeformter Bursche mit Ohren, deren Spitzen traurig nach unten hingen, wollte näher treten und ihn stützen. Seine Züge deuteten auf elfenaristokratisches Blut hin, sein bedeutungsleerer Gesichtsausdruck hingegen auf angeborene Stupidität. Die stolze Herrscherin des Luftschlosses befahl ihm mit einem kurzen Zischen, an seinen Platz zurückzukehren. Er gehorchte widerspruchslos, wie eine Marionette.
Alebin trat näher an seine Mutter heran. Er roch sie, spürte die Hitze großer Erregung, die von ihr ausging, fühlte ihre Aura, die ihm seit Jahr und Tag entzogen war – und, plötzlich, einen Schwall heftigster Abneigung.
»Warum habe ich dich damals nicht getötet?«, fragte sie leise – und spuckte Alebin vor die Füße
Die Tat riss ihn aus diesem schönen, einlullenden Traum, und auf eine gewisse Weise empfand er Dankbarkeit für seine Mutter. Beinahe hätte er sich im Dschungel menschlicher Gefühle verirrt und wie einer von ihnen gehandelt: schwach, inkonsequent und von lächerlichen Emotionen geleitet.
Während er sich die letzten Spuren der Feuchtigkeit von seiner Wange wischte, schwor er sich, von nun an nie mehr zu weinen.
Eine einzige Frage brannte Alebin auf der Zunge. Er trat noch näher an seine Mutter heran, die wie eine Statue stehen geblieben war und ihn mit hochmütigen Blicken musterte. »Warum?«, fragte er. »Warum hast du mir das angetan?«
Sie lächelte. »Es war nichts Persönliches,
mein Sohn
. Du warst nun mal
der Minderwertige
.«
»
Der Minderwertige?
Ich verstehe nicht …«
»Man merkt, was die Menschen aus dir gemacht haben: einen begriffsstutzigen Kleingeist, der von Emotionen gesteuert wird und schwermütig durch sein erbärmliches Leben wandelt.«
»Warum bin ich der Minderwertige?«, hakte Alebin nach.
»Weil dir deine Brüder einiges voraushatten. Besser gesagt: deine Halbbrüder.«
Mutter erzählte ihm eine Geschichte, die von Lug und Betrug handelte, von höfischen Schwindeleien und unabsehbaren Konsequenzen, welche sie und andere Elfen leichtfertig in Kauf genommen hatten.
Ein Platz war an der Seite der Herrscherin der Sidhe Crain zu füllen gewesen. Eine äußerst begehrte Stelle, die Macht in Hülle und Fülle versprach und die selbst die langlebigen Elfen maximal einmal in ihrer Lebenszeit angeboten bekamen.
»Gesucht wurde ein Berater für die Herrscherin«, begann Alebins Mutter zu berichten. »Einer, der das Kriegshandwerk aus dem Effeff beherrschte, die Schläue des Bastfuchses besaß und die Zähigkeit eines Vielfraßes mit sich brachte. Cernunnos, der gewaltige Recke aus dem Westland, war die natürliche Wahl der Gremien und der Herrscherin. Doch längst schon hatten sich graue Strähnen in sein Haar geschmuggelt, und sein Waffenarm hatte an Kraft verloren. Niemand wusste das so gut wie Cernunnos selbst. Doch er war eitel genug, um nach einem Weg zu suchen, wie er dennoch seinen Namen in die Reihen des höchsten Adels schwindeln konnte: Er würde einen Sohn zeugen. Doch nicht irgendeinen, nein! In kurzer Folge wollte er vier der begehrenswertesten Elfenfrauen begatten. Das Kind, das die besten Anlagen zeigte, würde er ausbilden und als Ratgeber positionieren.
Ich war eine dieser vier Elfenfrauen; vielleicht sogar die hübscheste von allen. Über die Namen der anderen werde ich keine Silbe verlieren; selbst ein einziger Gedanke an sie verätzt meine Zunge und bringt den widerlichen Geschmack der Erinnerung zurück.
Cernunnos war begehrenswert, und als er sich mir vorstellte, glaubte ich, ein Glück gefunden zu haben, das sonst nur Menschen und anderen niederen Geschöpfen zuteilwird. Er warb um mich, er besang meine Klugheit, er zeigte unendlich viel Geduld. Nachdem ich ihm endlich gestattet hatte, mir beizuliegen, durchlebte ich einige Stunden höchster Freude, und als er seine Leidenschaft laut ins Land hinausröhrte, wusste ich im selben Moment, dass ein Lebensfunke in mir erwachte. Du,
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