Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
Überwachungsvideos ist auch nichts zu sehen.«
»Das ist nicht viel.«
»Im Gegenteil. Das hat meinen ursprünglichen Verdacht bestätigt.«
»Haben Sie Boswell davon erzählt?« fragte ich.
»Warum sollte ich? Uns geht es nicht um das Manuskript, uns geht es um den Mann, der es gestohlen hat.«
»Nämlich?«
»Ich kann Ihnen den Namen nicht sagen, aber ich kann ihn für Sie aufschreiben.« Er zückte einen Filzstift, schrieb »Acheron Hades« auf einen Notizblock und hielt ihn mir hin.
»Kommt Ihnen der bekannt vor?«
»
Sehr
bekannt sogar. Aber es dürfte kaum jemanden geben, der noch nicht von ihm gehört hat.«
»Ich weiß. Aber Sie kennen ihn persönlich, nicht?«
»Und ob«, antwortete ich. »Er war ’68 einer meiner Anglistikdozenten an der Swindoner Universität. Keiner von uns war sonderlich verwundert, als er zum Kriminellen wurde. Er war ein ziemlicher Frauenheld. Er hat sogar eine meiner Mit-Studentinnen geschwängert.«
»Miss Braeburn, ja; das wissen wir. Wie steht es mit Ihnen?«
»Er hat es versucht, aber es hat nicht geklappt.«
»Haben Sie mit ihm geschlafen?«
»Nein; ich hatte andere Pläne, als mit meinen Dozenten ins Bett zu gehen. Ich fühlte mich zwar geschmeichelt, wenn er mich zum Essen einlud oder so. Er war schließlich ein Genie – aber moralisch war er ein Vakuum. Ich weiß noch, wie er mitten in einem geistreichen Vortrag über John Websters
Weißen Teufel
aus dem Hörsaal weg verhaftet wurde, wegen bewaffneten Raubüberfalls. Sie konnten ihm zwar nichts nachweisen, aber die Braeburn-Sache kostete ihn dann doch seine Dozentur.«
»Und als er Sie bat, mit ihm zu kommen, haben Sie abgelehnt.«
»Sie scheinen ja bestens informiert zu sein, Mr. Tamworth.«
Tamworth machte sich eine Notiz. Dann hob er den Kopf und sah mich an. »Aber die wichtigste Frage ist: Sie wissen genau, wie er aussieht?«
»Logisch«, antwortete ich, »aber Sie vergeuden Ihre Zeit. Er ist ’82 in Venezuela ums Leben gekommen.«
»Nein; er hat seinen Tod vorgetäuscht. Ein Jahr später haben wir das Grab geöffnet. Von einer Leiche keine Spur. Er hatte die Sache so gut vorbereitet, daß er selbst die Arzte täuschen konnte; sie beerdigten einen leeren Sarg. Er verfügt über bemerkenswerte Fähigkeiten.
Deshalb dürfen wir auch seinen Namen nicht laut aussprechen. Ich nenne das die Regel Nummer Eins.«
»Seinen Namen? Warum nicht?«
»Weil er seinen Namen – selbst wenn man ihn nur flüstert – im Umkreis von mindestens tausend Meilen hören kann. Mit seiner Hilfe nimmt er sozusagen unsere Witterung auf.«
»Und wie kommen Sie darauf, daß er
Chuzzlewit
gestohlen hat?«
Tamworth holte eine Akte aus seinem Koffer. Sie trug die Aufschrift »Streng geheim – nur für Angehörige von SpecOps-5«. Das Passepartout auf dem Deckel, in dem normalerweise ein Verbrecherfoto steckte, war leer.
»Wir haben kein Bild von ihm«, sagte Tamworth, als ich den Ordner aufschlug. »Auf Film oder Video bleibt er unsichtbar und war nie lange genug in Gewahrsam, als daß ein Zeichner ein Porträt von ihm hätte anfertigen können. Erinnern Sie sich an die Kameras in Gad’s Hill?«
»Ja. Und?«
»Sie haben nichts aufgezeichnet. Ich habe mir die Bänder genau angesehen. Auch wenn alle fünf Sekunden der Kamerablickwinkel wechselt, konnte ihnen der Eindringling
unmöglich
entgehen.
Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?«
Ich nickte langsam und blätterte in Acherons Akte.
Tamworth fuhr fort: »Ich bin ihm seit fünf Jahren auf den Fersen. In Großbritannien wird er wegen siebenfachem, in Amerika wegen achtzehnfachem Mord gesucht. Diebstahl, Erpressung, Menschenraub.
Er ist eiskalt, berechnend und kennt keine Skrupel. Sechsunddreißig seiner achtundvierzig bekannten Opfer waren entweder SpecOps-Agenten oder Polizeibeamte.«
»Hartlepool ’75?« fragte ich.
»Ja«, antwortete Tamworth zögernd. »Sie haben davon gehört?«
Natürlich. Wer hatte das nicht? Nach einem fehlgeschlagenen Raubüberfall saß Hades im Keller eines mehrstöckigen Parkhauses in der Falle. Ein von der Polizei angeschossener Komplize lag tot in einer nahe gelegenen Bank; Acheron hatte ihn selbst umgebracht, damit er nicht gegen ihn aussagen konnte. Im Keller überredete er einen Polizisten, ihm seine Dienstwaffe auszuhändigen, und erschoß bei seiner Flucht sechs weitere Beamte. Der einzige Überlebende war der Polizist, dessen Waffe er sich angeeignet hatte. Acheron fand das vermutlich witzig. Der fragliche Beamte wußte keine
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